Polyträumer : STORIES of Istanbul: "Hashtag Todesstrafe"

Montag, 25. Juli 2016

STORIES of Istanbul: "Hashtag Todesstrafe"

Dieser Artikel wurde auf n-tv.de veröffentlicht und kann auch dort nachgelesen werden:

http://www.n-tv.de/politik/Hashtag-Todesstrafe-article18261906.html

"#TodesstrafeMussHer", ein Banner im Stadtteil Fatih

Die Verhängung des Ausnahmezustandes am Mittwoch hat die Stimmung in Istanbul im Vergleich zu den Vortagen nicht merklich verändert. Viele Menschen, mit denen man spricht, geben zu bedenken, dass die Regierung schon seit Monaten agiert, wie es eigentlich nur im Notstand üblich wäre.

Kontrolle der Medien, eingeschränkte Versammlungsfreiheit, Ausgangssperren – in Teilen des Landes und für Teile der türkischen Gesellschaft sind solche Maßnahmen nichts Neues. Für die meisten Menschen, unabhängig davon, wie sie zu Präsident Erdogan stehen, ist der Ausnahmezustand lediglich eine Ausweitung der Maßnahmen, die zuvor ohnehin schon regelmäßig ergriffen wurden.

Was jedoch auffällt, sind Art und Umfang der propaganda-ähnlichen Öffentlichkeitsarbeit, die nun von Seiten der Regierung betrieben wird. Täglich wird die Bevölkerung über die Medien und immer wieder auch in massenhaft verschickten SMS aufgerufen, weiterhin auf die Straße zu gehen, um sich zu ihrem Land zu bekennen. Von Behörden und Brücken, am Istanbuler Wahrzeichen Galata-Turm, an öffentlichen Bussen und selbst auf den Fahrzeugen der Stadtreinigung leuchtet das Rot der türkischen Fahne. Auf Werbeflächen, die normalerweise Reklame zeigen, sind nun die Flagge der Türkei und politische Slogans zu sehen.

Öffentliche Verkehrsmittel, wie hier die Tünelbahn auf der Istiklal Straße, sind mit Fahnen versehen.

Auf den Bildschirmen in der Metro, wo sonst zum Zeitvertreib der Fahrgäste Katzenvideos abgespielt werden, sind es alte Wahlkampfclips der AKP. Seit Tagen ist der öffentliche Transport für alle Bürger kostenlos, und auf öffentlichen Plätzen wird von der Stadtverwaltung und dem Türkischen Roten Halbmond kostenlos Essen und Wasser verteilt.

"Yalniz değilsiniz" bedeutet "Ihr seid nicht allein", ein Stand des türkischen Roten Kreuzes "Kızılay, auch roter Halbmond.

In den regierungsnahen Medien wird der nationale Zusammenhalt – gegen Regierungsgegner, aber auch gegen "Gefahren von außen" – wiederholt betont. Fernsehsender und Zeitungen geben selektive Informationen wieder und scheinen hauptsächlich auf emotionale Reaktionen abzuzielen. Die Menschen, die in der Nacht des Putschversuchs Erdogans Aufruf gefolgt waren und sich Panzern und Soldaten entgegengestellt hatten, werden von der Regierung als Helden gefeiert. Auf dem Taksim-Platz wurde eine große Gedenktafel errichtet, auf der die Namen der "Märtyrer", der im Putsch getöteten Zivilisten, aufgelistet sind. Daneben werden auf einer Leinwand Interviews mit den Angehörigen der Toten gezeigt. Im Hintergrund ist die gesamte Fassade des Atatürk-Kulturzentrums mit der Botschaft "Die Macht gehört dem Volk" überzogen.

"Hakimiyet Milletindir"kann als "Die Macht gehört dem Volk" oder aber "die Souveränität gehört der Nation" übersetzt werden.

Im konservativen Stadtteil Fatih steht eine große Bühne, vor der sich eine Menschenmasse versammelt hat. Inmitten der Menschen steht auf dem Dach eines gepanzerten Mannschaftswagens ein Polizist mit Maschinengewehr und lässt seinen Blick über die Köpfe schweifen. Zwischen zwei Bäumen hängt ein selbstgebasteltes Banner, auf dem "#idamşart" steht, was soviel bedeutet wie: "Die Todesstrafe muss her". Hashtag Todesstrafe.

Auch der Stadtteil Fatih leuchtet in dieser Nacht rot.

Mit meinen blonden Haaren und der Kamera in meiner Hand scheine ich hier aufzufallen. Plötzlich sind wir von ernst blickenden Menschen umkreist. Was folgt, gleicht einem Verhör. Sie verlangen zu wissen, woher ich komme, was ich hier tue, warum ich Fotos mache. Nachdem wir eilig den Platz verlassen haben, erklärt mir mein Begleiter, was soeben passiert ist. In den türkischen Medien werde derzeit ein Feindbild westlicher Vorstellungen gezeichnet, sagt er, vor dessen Hintergrund mich diese Regierungsanhänger als eine Art "Spion des Westens" gesehen haben müssen.

Ein junges Mädchen feiert die Türkei.

Zumindest hier in Fatih sind die allgegenwärtigen politischen Botschaften offenbar angekommen. Während westliche Nationen das Nato-Mitglied Türkei noch als Partner in der Flüchtlingskrise bezeichnen, scheint sich die türkische Regierung schon längst umorientiert zu haben.

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Was-Warum-Wer?/////// What-Why-Who?

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Meiner alten Liebe Berlin musste ich gestehen, dass ich nun erst einmal etwas Raum für mich brauche, und wir eine Pause in unserer Romanze einlegen sollten; für ein Jahr gehe ich fremd mit einer Neuen: Istanbul. Und ich habe mich ein bisschen verknallt. Ich liebe diese Stadt mit ihren verwinkelten hügeligen Straßen, den Menschenströmen bei Nacht, den Bosporus-Strömen bei Tag, der Brise, die von Salzwasser, Shisha-Rauch oder frischen Feigen erzählt, den allgegenwärtigen heißen Tee sowie die frierenden Katzen und Hunde auf den Straßen, die Möwen die kreischend an meinem Fenster vorbei fliegen oder die Gebetsgesänge, die aus Moschee-Lautsprechern tönen, die Simit-Verkäufer am Straßenrand, die alten Frauen in Kopftüchern, die Teenager Türkinnen mit blauen Strähnen in den Haaren, die Fußballleidenschaft, die stundenlangen Brettspielpartien von Männerscharen, die mediterrane Sonne, die mir Sommersprossen ins Gesicht zaubert, die Art und Weise, nicht alles so wichtig zu nehmen, Raki mit Melone und Weißkäse, und der Blick der Freude, den der Gemüsehändler hat, wenn ich mithilfe meines kleinen Türkisch Wortschatzes bestelle.

Was mich betroffen macht, ist der Umgang der Regierung, der Machthabenden, der Polizei mit ihren Bürgen, mit den Menschen dieses Landes, mit meinen neuen Freunden. Die Menschenrechte werden immer mehr zu groben Richtlinien, zu Vorschlägen, die Demokratie ist arg am bröckeln und lang unterschwellig brodelnde Konflikte werden inzwischen täglich gewaltvoll ausgetragen.

Bevor ich kam, war mir die politische Lage ein Rätsel, in den Nachrichten hörte ich vom Kurdenkonflikt, aufgekündigter Waffenruhe, un-absoluter Mehrheit, und Terrorgruppen, ein großes verworrenes Netzwerk aus Handlungssträngen. Durch das Leben in diesem Land bin ich keine Expertin geworden, ich werde als Außenstehende nie alles verstehen können, und ich gebe mich nicht der Illusion hin, eine objektive Sicht auf diese Gesellschaft zu haben. Die Prägung meiner Werte und Moralvorstellungen ist seit meiner Geburt fast ausschließlich in Deutschland erfolgt, woran ich hier umso mehr erinnert werde, in Situationen, in denen mein Weltbild plötzlich infrage gestellt wird. Ich versuche aufmerksam mit diesem Wissen umzugehen, Dinge hinzunehmen auch wenn meine deutschen Augen manches noch nie gesehen haben oder manches nicht nachvollziehen können. Ich versuche, mich anzupassen, und in diese aufregende Kultur einzutauchen, sie aufzusaugen, mein Gehirn mit türkischer Grammatik zu konfrontieren und neue Gewohnheiten auszuprobieren.

Meine neuen Freunde sind ein wichtiger Teil dieses Abenteuers, und bei spannenden Gesprächen konnte ich schon soviel unheimlich interessante Meinungen und Geschichten hören. Seit der ersten Woche dreht sich das Gesprächsthema oft um Politik, um die Wahl, und um die Degenerierung der fairen und menschenwürdigen Demokratie. Genau dies ist die Grenze der Anpassung, die ich trotz aller Offenheit nicht überschreiten kann. Ich erlebe die Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten, die im Zusammenhang mit Regierungskritik entstehen, insbesondere durch die Emotionen meiner Freunde. Junge Menschen, die glasige Augen bekommen, wenn der Name Suruç fällt, die wütend von ihrer Uni Suspendierung wegen politischem Engagements erzählen, die abwesend und etwas hoffnungslos ins Leere starren, wenn es darum geht, was vom Gezi Protest noch übrig geblieben ist.

Manchmal stöbere ich in den Medien und erinnere mich plötzlich an Geschichten, die meine Eltern aus der DDR erzählt haben. Wirtschaftliche Erpressung, Angriffe auf Regierungskritiker, Ausspionierung, Scheindemokratie. Aber im Vergleich zum entfernten Vergangenheitsdeutschland meiner Eltern, atme ich die Luft meiner neuen Realität selbst ein, sie ist ein Teil von mir geworden, und das bewegt mich. Vielleicht ist dies ein weiterer Grund, warum mein Herz für die Thematik entbrannt ist, wie auch für Istanbul. Aber wie könnte es auch nicht in mir unruhig werden, wenn ich selbst miterlebe, wie Misstrauen herrscht, Presse- und Meinungsfreiheit hinter Gittern sind und Menschen sich nicht frei fühlen können, wenn auf Friedensdemonstrationen Tränengas eingesetzt wird und ein schmutziger Krieg gegen die eigene Bevölkerung geführt wird.

Ich möchte euch davon erzählen, was hier passiert, was ich erfahre, wie ich es erlebe, welche Meinung ich mir aus den Informationen, Gesprächen, Beobachtungen, Zeitungsartikeln und Geschehnissen bilde und euch eine alternative, natürlich subjektive Sicht anbieten. Aber ich möchte auch erzählen von meiner neuen Angebeteten Istanbul, von Orten, die mich verzaubern, von Menschen und ihren Geschichten die mich faszinieren, von den Farben, Stimmen und Gesichtern, die mich täglich umgeben, von Diskussionen, Auseinandersetzungen, Traumata und Tagträumen, Poly-Realisationen.

I had to tell my old love, Berlin, that I feel like I require some space for myself, that we should have a break in our romance; so for one year I am having an affair with my new darling: Istanbul. And I sure have developed a little crush. I love this city with its narrow, winding streets, the streams of humans at night, the Bosporus streams during the day, the breeze that is telling stories of saltwater, fresh figs or waterpipe-smoke, the omnipresent hot black tea, the freezing cats and dogs on the streets, the seagulls flying by my window screaming, the prayer calls ringing out from mosque speakers, the Simit-vendors at the side of the street, the old ladies in headscarfs, the young turkish girls with strands of blue in their hair, the passion for soccer, the flocks of men playing endless sessions of boardgames, the mediteranean sun that lets the freckles sparkle in my face, the habit of not taking everything so serious, Raki with melon and white cheese, and the look of joy that the vegetable vendor has on his face when I use my little Turkish while buying something.

What worries me is the way the government, the ones in power, the way the police handels their citizens, handels my new friends. Human rights are more and more becoming mere guidelines, suggestions, democracy is crumbling and subliminal conflicts are violently surfacing.

Before coming here, the political situation puzzled me, in the media I heard of the curdish conflict, revoked cease-fire, a non-absolute majority, terror groups, a tangled network of storylines. By living in this country I have not become an expert, as the outsider that I am, I will never fully understand everything, and I do not indulge in the illusion of having an objective view on this society. The cultural imprint on my values and morals has taken place almost seclusively in Germany, of which I am reminded here all the more, in situations in which my world-view is suddenly being questioned.

I try carefully administering this knowledge, taking things as they are, even if some of them, my german eyes have never seen and might never fully understand. I try to adapt, adjust, to dive into this exciting culture, to soak it in, to confront my brain with turkish grammar and I am trying new habits.

My new friends play an important part in this adventure, and during intriguing conversations I was already able to hear tremendously interesting opinions and stories. Since the first week, the subject of conversation often turns to politics, to the election, to the degeneration of a fair and humane democracy. Exactly this is the limit of adjustment I am not willing to surpass, in spite of all openness and willingness to adapt. I am witnessing injustice and inconsistencies treating critique of the government especially through the emotions of my friends. Young humans whose eyes start to water when the name Suruc is mentioned, who angrily remember their suspension from University due to being politically active, who absent-minded stare into distance, when questioned what is left of Gezi Protests.

Sometimes while rummaging through the media, I suddenly remember stories that my parents told me about their time in the GDR (German Democratic Republic). Economic blackmailing, attacks on those criticizing the government, espionage, pseudo-democracy. But compared to the distant Germany of my parents’ past, I am breathing the air of my new reality every day, and it is becoming a part of myself, which moves me. Maybe this is another reason for my heart being ignited by the subject matter, as it is ignited by Istanbul itself. But how could I not be uneasy, when I experience for myself how distrust is prevailing, freedom of press and opinion are behind bars and humans can not feel free, when peace protests are met by teargas and a dirty war against the own citizens is taking place.

I want to tell you about the things that are happening here, what I experience and how, which opinion I form based on information, discussions, observations, articles and events and offer you an alternative, of course subjective perspective. But I also want to narrate about my new love Istanbul, about places that enchant me, about humans and their stories that fascinate me, about colors, voices and faces that surround me daily, about discussions, traumata and daydreams, poly-realisations.

Sabina.