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Sonntag, 17. Juli 2016

POLITICS in Istanbul: Erdoğan baut die Türkei um

Dieser Text wurde veröffentlich auf n-tv.de und kann unter folgendem Link auch dort nachgelesen werden: 
http://www.n-tv.de/politik/Was-kommt-nach-dem-Putsch-article18212611.html

Nach dem vereitelten Putschversuch von Freitagnacht scheint die Türkei auf eine düstere Zukunft zu blicken. Zu Beginn der Entwicklungen gab eine Gruppe innerhalb des Militärs eine Erklärung ab, in der sie die Machtübernahme des Landes verkündete. Dies geschehe zur Wiederherstellung der Demokratie und zum Schutz der Menschenrechte, welche unter dem aktuellen autokratischen Führungsstil des Machthabers Erdogan gefährdet seien, deklarierten sie.

Tatsächlich zeugen die politischen Entwicklungen der letzten Monate von allem anderen als von einer stabilen Demokratie. Vor der Parlamentswahl im November vergangenen Jahres, bei der die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan die absolute Mehrheit erhielt, hatte die Partei einen Großteil der Sendezeit öffentlicher Fernsehsender für sich beansprucht. Mit einem propaganda-ähnlichen Wahlkampf erlangte der Präsident eine Art Kultstatus in der Bevölkerung. Internationale Beobachter berichteten nach der Wahl von Manipulationen.

Zuvor hatte Erdogan die jahrelange Waffenruhe zwischen kurdischen Gruppen und der türkischen Regierung aufgehoben. Die Bombardierung kurdischer Ziele begründete er mit einem Vorgehen gegen die Terrormiliz IS und gegen andere Staatsfeinde. Nach der gewonnenen Wahl begann Anfang des Jahres eine Welle von Inhaftierungen regierungskritischer Journalisten. Unabhängige Medieneinrichtungen wurden zunehmend unter Druck gesetzt. Schon seit einiger Zeit plant Erdogan die Einführung eines Präsidialsystems. Sein jüngster Schritt in Richtung dieses Vorhabens war eine Verfassungsänderung, die regierungsfernen Abgeordneten die Immunität entzog.

Im Laufe der Nacht des Putschversuches offenbarte sich zunehmend seine dilettantisch wirkende Durchführung. Unter den Putschisten befanden sich kaum ranghöhere Offiziere, die jungen Soldaten schienen laut Zeugenaussagen unsicher und ungewöhnlich defensiv. Dies ließ früh Gerüchte aufkommen, der Putschversuch sei möglicherweise von der Regierung selbst inszeniert. Andere sprachen davon, dass die Putschisten geglaubt haben könnten, dies sei die letzte Möglichkeit, Erdogans Machtausbau zu stoppen. Denn für die bevorstehende Militärversammlung hatte der Präsident Entlassungen kritischer Militärsmitglieder angekündigt.

Aber das sind lediglich Spekulationen. Was bereits jetzt deutlich ist, sind kurz- und langfristige Folgen des Putsches. Videoaufnahmen zeigen das brutale Vorgehen ziviler Regierungsanhänger gegen Soldaten, die sich bereits ergeben hatten, auch von einem Lynchmord wurde berichtet. Erdogan hatte das Volk per Videobotschaft und SMS dazu aufgefordert, für die Verteidigung des Landes und der Regierung auf die Straße zu gehen. Tausende Anhänger folgten seiner Anweisung und stellten sich den Soldaten entgegen - mit der Folge, dass es viele Tote gab.

Öffentliche Feiern, bei denen nationalistische Parolen skandiert wurden, hielten bis zur nächsten Nacht an. Auch die internationalen Reaktionen sind dominiert von einem geschlossenen Rückhalt für Erdogan. Die westlichen Regierungen machten deutlich, dass sie den Putsch keinesfalls unterstützen würden. Auch die Parteien des türkischen Parlamentes zeigen sich ausnahmsweise einig in der Verurteilung des Putschversuches - zu präsent sind ähnliche Ereignisse in der Vergangenheit, die stets ein blutiges Ende genommen hatten.

Schon am Morgen des Folgetages erklärte die Regierung, sie habe erste Schritte zur "Säuberung" des Land unternommen. Mehr als 2700 Richter wurden entlassen, viele wurden festgenommen. Eine massive Entlassungswelle gab es auch im Militär, 3000 Soldaten sollen in Gewahrsam genommen worden sein. Laut offiziellen Angaben prüft die Regierung die Wiedereinführung der Todesstrafe, um sie auf die überlebenden Putschisten anzuwenden. Dies ist ein deutliches Zeichen, dass Erdogan bei seinem Machtausbau auf undemokratische und menschenrechtswidrige Mittel setzt.

In oppositionellen Medien wird schon seit längerer Zeit ein zunehmend autokratischer Führungsstil in der Türkei mit dem möglichen Ziel einer Diktatur diskutiert. Nach dem Putsch sieht es so aus, als werde es seitens der Regierung Schritte in diese Richtung geben. In einem Land, das unter einer instabilen Lage leidet, nutzt der Präsident wiederholt die - teils von ihm selbst verursachten - Unruhen, um sich als starker Anführer zu profilieren. Es ist kein Geheimnis, dass Erdogan das Ziel verfolgt, die Trennung zwischen Religion und Staat zu diffamieren oder sogar aufzuheben. Daher überrascht es nicht, dass gläubige Türken, die den Großteil der Bevölkerung des Landes ausmachen, in der Nacht des Putschversuches von ihren Gotteshäusern, von Moscheelautsprechern aus zum Kampf aufgerufen wurden.

Aus liberalen Kreisen wurden nach dem Putsch in sozialen Netzwerken Parallelen zu dem historischen Entwicklungen nach dem Reichstagsbrand in Deutschland 1933 gezogen. Der Anschlag auf das Parlament wurde damals als Vorwand genutzt, um die Verfassung praktisch außer Kraft zu setzen. Regierungskritische Türken scheinen ähnliche Folgen im eigenen Land zu befürchten.

Bei den Feiern nach dem Putschversuch herrschte teilweise eine aggressive Stimmung. Einige Erdogan-Anhänger schienen den Plan gefasst zu haben, die von der Regierung propagierten konservativ-islamistischen Vorstellungen in Eigenregie durchzusetzen. Sie verübten im Laufe der Nacht Selbstjustiz, indem sie in einem Studentenviertel Menschen angriffen, weil diese öffentlich Bier getrunken hatten.

Es sieht so aus, als habe Erdogan die breite Unterstützung für den von ihm geplanten Machtausbau. Die Abkehr des Landes von einer stabilen, friedlichen Demokratie scheint sich in höherem Tempo fortzusetzen. Bereits existierende Machtstrukturen könnten nach den aktuellen Entwicklungen mehr und mehr auf Verfassungs- und Gesetzesebene legitimiert werden.


Zu befürchten ist außerdem ein Brain drain des Landes. Es könnte eine Auswanderungswelle von jungen Intellektuellen und Kreativen folgen, für die es in ihrem eigenen Land immer schwierigere Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten gibt. Schon in den vergangenen Monaten sah es so aus, als hätte das Wahlergebnis vom November sowie die kontinuierliche Unterdrückung zu einer Resignation im westlich orientierten Teil der jungen Generation geführt. Für viele junge Menschen könnten der vereitelte Putsch und seine Folgen der entscheidende Anstoß sein, ihrem Land nach langem Hadern den Rücken zu kehren.

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