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Freitag, 22. Juli 2016

VOICES of Istanbul: Unterwegs mit einer Regierungsanhängerin

Dieser Artikel wurde auf n-tv.de veröffentlicht und kann auch dort nachgelesen werden:
http://www.n-tv.de/politik/Wir-haben-gewonnen-article18242161.html



Istanbul scheint derzeit im Tageslicht seinen üblichen Geschäften nachzugehen, in den Nächten aber ist nach dem vereitelten Putsch vom Freitag nichts mehr wie es war. Allabendlich treffen sich Anhänger der Regierung auf öffentlichen Plätzen, um ihr Land und dessen Entwicklungen zu feiern.

Am frühen Abend treffe ich auf dem Taksim-Platz meine Bekannte Alia*, die für den türkischen Nachrichtensender TRT arbeitet. Sie war in der Nacht des Putsches dabei, als Soldaten in das Gebäude des Senders eindrangen. Auf ihrem Handy zeigt sie mir das Video einer Sicherheitskamera, das ihren Arbeitsplatz zum Zeitpunkt der vorläufigen Übernahme durch die Putschisten zeigt. "Aber wir haben gewonnen!", sagt sie mit strahlendem Gesicht. Sie empfindet die Ereignisse der letzten Tage als Sternstunde der türkischen Demokratie. Gestern hat sie sich mit einem ihrer Freunde zerstritten, weil dieser kritisch über die aktuellen Maßnahmen der Regierung gesprochen hat.

Auf der Straße vor dem Café, in dem wir sitzen, dämmert es langsam, und der allnächtliche Trupp grölender Menschen zieht mit einer überdimensionalen Türkei-Flagge die Haupteinkaufsstraße entlang. Instinktiv schaue ich mich nach bewaffneten Polizisten um, die hierzulande normalerweise bei jeder noch so kleinen Demonstration in Überzahl präsent sind. Doch jetzt sind keine Uniformierten zu sehen.

Alia kann meine Schreckhaftigkeit nicht verstehen. Sie meint, ich solle die Atmosphäre dieser historischen Tage genießen. Sie weiß nicht, dass ich vor kurzem zufällig eine prokurdische Demonstration beobachtet habe. Ich konnte sehen, wie brutal die Polizei mit friedlichen Demonstrierenden umgeht, wie Wasserwerfer zum Einsatz kamen. Ich selbst konnte das Tränengas in meinen Augen spüren. Auch scheint Alia nichts von der regelrechten Pogromstimmung mitbekommen zu haben, die in den letzten Nächten in den Seitengassen der Stadt herrschte. In einem Studentenviertel wurden Menschen angegriffen, weil sie Alkohol tranken. Auch Angehörige von Minderheiten wurden attackiert.

Wir mischen uns unter die Menge, die minütlich zu wachsen scheint und den gesamten Platz füllt. Der Taksim, der noch vor drei Jahren Schauplatz der Gezi-Proteste war, ist ein einziges Fahnenmeer, es herrscht eine Stimmung wie bei einem Volksfest. Rote Luftballons, Türkei-Schals und Bänder mit der Aufschrift "Recep Tayyip Erdoğan" werden verkauft, eine Mutter bindet ihrem freudestrahlenden Kind eines um den Kopf. Auch Alia hat eine Fahne dabei und posiert für Fotos, die sie dann unter der Überschrift "Alles für die Türkei. Gott segne dieses Land!" in diversen sozialen Netzwerken teilt.

Über riesige Lautsprecher ertönt türkische Musik, die Menge liegt sich euphorisch in den Armen. Von einer Bühne kommen die immer gleichen Parolen: "Ihr seid Helden! Der 15. Juli 2016 wird in die türkische Geschichte eingehen! Ihr habt die Ehre dieses Landes bewahrt!" Ein Kleinkind ist auf die Bühne geklettert und schwenkt eine türkische Fahne, auch ihm jubelt die Menge zu. Plötzlich ertönt wieder das laute Hupen, welches die Stadt in diesen Nächten wachhält, ein Moped-Korso kreist um die Atatürk-Statue herum. Auf das Denkmal sind einige junge Männer geklettert und zünden Leuchtfeuer, die ihre Gesichter in rotes Licht tauchen.

Natürlich kann ich nachvollziehen, dass Alia sich ihrem Land verbunden fühlt, wo sie einen sicheren Arbeitsplatz hat und ihren Glauben frei leben kann. In der Ausgelassenheit dieser Tage scheint sie jedoch nicht in Betracht zu ziehen, dass dies nicht allen hier so geht. Menschen, die nicht gläubig sind, die kritisch über die Maßnahmen der Regierung denken oder die einer ethnischen Minderheit angehören, sind vermehrt Repressionen ausgesetzt. Ein Dialog zwischen den Seiten der gespaltenen türkischen Bevölkerung scheint in immer weitere Ferne zu rücken.


* Name geändert




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