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Montag, 5. Dezember 2016

Türen Die Verführen // 3/4




Der Polyträumer Adventskalender öffnet seine Pforten für euch!
Diesmal: Vorhang auf für einen weit hergeholten Vergleich - Wie sich Dornröschen in der Politik versucht. 

Kleine Füße in Glitzerstrumpfhosen tippeln aufgeregt durch das Forum der Urania, ungeduldige Mädchenhände ziehen ihre schwerfälligen Großeltern in Richtung des Humboldt-Saales, wo das russische Nationalballett Tschaikowskys Dornröschen aufführt. Kurz später im Saal verstummt das wirre Murmeln schlagartig, als der schwere Samtvorhang den Blick auf die prächtige Märchenbühne freigibt. Bis zur Präzision trainierte Tänzerkörper erzählen die Geschichte der Königstochter, die aufgrund eines Fluches in einen hundertjährigen Schlaf verfällt, bevor sie vom heldenhaften Kuss des Prinzen erlöst wird.

Ich erinnere mich an meine Ballett-Tanzstunden, wie ich an der Schwelle zur Pubertät tatsächlich selbst leidenschaftlich von einer Ballerina-karriere träumte. Für eine kurze Weile war ich eines der kleinen Mädchen, die auf der Bühne zaghafte Pas-des-chat Sprünge machten und mit staunender Bewunderung große Ballettaufführungen verfolgten. Das war bevor ich verstanden habe, was der Job wirklich bedeutet. Aber auch bevor ich ein realistisches Verständnis der Welt hatte, lang bevor ich begriffen hatte, dass meine Optionen mehr als ein Prinzessinnen- oder ein Ballerina-Dasein umfassten, und sehr lang bevor ich einen milden Hass gegenüber dem Prinzessinen-Kult entwickelt habe, der für kleine Mädchen betrieben wird, wie sie mich heute in diesem Saal umgeben.

Heute beobachte ich die Tänzerinnen, deren riesiges Lächeln unter ihrem dickem Make-Up bizarr maskenartig aussieht, und die kleinen Mädchen, die sie mit funkelnden Augen anhimmeln während mein eigenes Gesicht in nachdenklichen Falten erstarrt ist. Was geht den kleinen Mädchen wohl durch den Kopf, während sie die exakt einstudierte Leichtigkeit in den Bewegungen der Solistin verfolgen, die als Dornröschen Pirouetten dreht und schließlich atemlos, unter rasanten Hebungen und Senkungen ihres Brustkorbes, in den vermeintlich verzauberten Schlaf fällt? Werden sie früher als ich verstehen, dass sie auch selbst Ritterinnen, Wachküsserinnen, Kämpferinnen, oder gar Firmenchefinnen in Glitzerstrumpfhosen sein können, wenn sie das möchten? Werden sie sich so glücklich und verzaubert wie Dornröschen fühlen, wenn sie aus ihrem ersten Rausch aufwachen, weil ein alkoholisierter Party-König seine Lippen ungefragt auf ihre drückt?

Das Märchen des Dornröschen haben die Gebrüder Grimm aus einer Erzählung von Giambattist Basile übernommen. In der ursprünglichen Fassung der Geschichte „Sonne, Mond und Thalia“, die um 1636 erschien, war statt magischem Wachküssen die Rede von einer Vergewaltigung der schlafenden Prinzessin. Nach wie vor bewusstlos gebärt die Prinzessin in dieser früheren Variante des Märchens Zwillinge, die sie schließlich aus ihrem Schlaf erwecken. Am Ende der Geschichte wird Hochzeit gefeiert, die 16-jährige Prinzessin wird mit ihrem Vergewaltiger vermählt.

Das heutige Glitzerspektakel auf der Bühne basiert indirekt auf dieser verstörenden Überlieferung aus dem Anfang der frühen Neuzeit. Eine Epoche die, wie es scheint, zuletzt unter Erdogan auch auf der Bühne des Politikgeschehens ihre späte Renaissance feiert. Der selbst-ernannte König setzt auf altbewährte Trends, die im Dornröschen-Stil eine echte Welt der Märchen im Hier und Jetzt entstehen lassen soll.


Gegen seinen Gesetzesentwurf, nachdem Vergewaltiger von Minderjährigen in der Türkei straffrei bleiben sollen, sofern sie ihre Opfer heiraten, sind hunderte Frauen auf die Straße gegangen. Was ist ihnen wohl durch den Kopf gegangen? Wie lang können sie noch als Kämpferinnen, als Wachrüttlerinnen die Märchen ertragen, die ihnen erzählt werden? Ihre Gesichter wirken nicht erstarrt, ihre Augen nicht verklärt, ihre Mimik auf den Medienfotos ist entschlossen, wütend. Sie wollen einen Neuentwurf der Erzählung, die Erschaffung einer unverklärten Narrative, die uninszenierte gerechte Chance, die ihnen zusteht. Sie machen die Hauptstraße Istanbuls zu ihrer Bühne, sie versuchen alle, die immer noch schlafen, noch schwerfällig im Konservativen schlummern, in eine andere Richtung zu ziehen, ihre Realität ins Licht zu rücken. Sie haben wie ich genug vom Märchen der Hilflosigkeit.




http://guardianprincesses.com

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