Istanbul//Berlin: Geschichten, Gesichter, Gedanken, Politik, Stimmen, Farben, Orte, Auseinandersetzen und Zusammensitzen, Traumata und Träume.

Istanbul//Berlin: stories, faces, thoughts, politics, voices, colors, places, examinations and integrations, trauma and 'Träume' (dreams).

Sonntag, 24. Januar 2016

Prägung, Privileg und Polemik - zur Flüchtlingsdebatte in Deutschland


In den letzten Tagen leuchtete der Bildschirm meines Telefons unerlässlich auf, intensive digitale Diskussion über die möglichen Themen, die in der anstehenden Prüfung relevant sein könnten. Dabei heben sich auf den Gesichtern deutscher Austausch-Studenten erstaunt Augenbrauen über die Hingabe einiger anderer Studenten unserer internationalen Seminargruppe, Hingabe mit der sie ein seitenlanges Dokument türkischer Erklärungen ins Englische übersetzten. Denn als europäischer Student, seien wir ehrlich, ist der Aufenthalt hier ein aufregendes Abenteuer, eine Möglichkeit, dem Studienalltag der Heimat zu entfliehen, und eher zweitrangig ist die intensive Hingabe dem Studium – daher das Erstaunen.

Raed, Nezar und Mohammed sind drei Studenten unserer Seminargruppe, die ihr Studium nicht in Europa, sondern in ihrer Heimat in Syrien begonnen hatten, nun sind sie in der Türkei, nach den genauen Umständen zu fragen, hat sich bisher niemand so recht getraut. Ich möchte mit naiven Fragen keinen wunden Punkt bei Ihnen treffen, doch nach vorsichtigem Herantasten an das Thema merke ich, Dialog ist immer besser als verunsichertes Schweigen. Raed ist der Clown der Gruppe, in einem zweiten Leben wäre er wohl Komiker geworden, Nezar ist der kluge, kühle Kopf, hinter einer Brille funkeln seine wachsamen Augen, Mohammed scheint zunächst etwas stiller, doch schüchtern ist er eigentlich nicht.

Wir sind sehr verschieden, unsere jungen Gehirne von so unterschiedlichen Wertesystemen geprägt, und doch sitzen wir hier zusammen in der Mensa in Istanbul, und plaudern über die Uni. Nach dem Essen wollte ich mich noch ein bisschen nach draußen in die Sonne setzen, bis die nächste Vorlesung beginnt. Höflich lehnen Nezar und Mohammed ab, sie nutzen die Zeit lieber fürs Gebet in der Campus Moschee. Einige Wochen zuvor schrieben wir eine Liste für die Professorin, welche Unterrichtsstunden wir aufgrund von Weihnachts-Heimat-Besuch verpassen würden. Gedankenverloren schrieb ich mein Datum auf, und reichte die Liste weiter an Nezar, der muss lachen und gibt die Liste stattdessen an eine andere deutsche Studentin. So weltoffen ich glaube zu sein, so ignorant komme ich mir vor in kleinen Situationen wie diesen, in denen ich unbehelligt und ungewollt davon ausgehe, die Situation meines Gegenüber, meines Nächsten sei die gleiche wie meine.

Dabei erinnere ich mich, wie ich vor zehn Jahren eine ganze Woche lang Workshops besucht habe, in Vorbereitung auf mein damaliges Austauschjahr zu Schulzeiten. So viele Erkenntnisse und Aha-Momente wie in dieser Woche habe ich wohl seither nicht mehr erlebt. In einer Simulation, in der nicht gesprochen werden durfte, wurden alle Mädchen auf dem Boden platziert, alle Jungen saßen auf Stühlen, seltsames Essen musste an sie gefüttert werden. Als wir nach einer Interpretation gefragt wurden war für alle Simulationsteilnehmer klar: in dieser fiktiven Kultur handelt es sich um eine Form von Benachteiligung der weiblichen Gesellschaftsmitglieder. Nach langer, zehrender Auswertung gelang uns aber der Durchbruch: Was, wenn wir nur von dieser Annahme ausgehen aufgrund unserer Prägung und unseres Weltbildes? Könnte es nicht auch sein, dass wir so interpretieren wie wir es tun, weil wir die gedanklichen Werkzeuge benutzen, die uns zur Verfügung stehen, diese aber vielleicht nicht immer ausreichen, um die Komplexität einer Situation zu erfassen? Meinem Teenager-Ich wurde damals klar: ich werde mich nie vollständig in eine andere Person, eine andere Kultur einfühlen können, zu sehr ist der Filter meiner Prägung, durch den ich die Welt sehe, Teil meines Ichs. Aber ich kann mir dieses Filters, dieser Tönung meines Blicks auf die Welt bewusst sein, und dessen, dass mein Gegenüber seinerseits seinen eigenen Filter in sein Wahrnehmungssystem integriert hat.



Meine syrischen Kommilitonen fragen mich, wann ich zurück nach Deutschland gehe, und fast reflexartig möchte ich im Small-Talk Stil die gleiche Frage entgegnen, halte aber inne, als ich mich wieder erinnere, dass meine Gesprächspartner sich den Aufenthalt hier nicht wie ich ausgewählt haben. Als hätte er meine Gedanken gelesen sagt Raed lächelnd, „Naja, wir können nicht zurück nach Hause. Im Moment nicht.“ Die Uni ist zerbombt, die Städte in denen sie ihr Studentenleben begonnen hatten, nicht mehr wieder zu erkennen. Nezar hat noch vor einigen Monaten in Syrien in einem Krankenhaus gearbeitet, er sagt „Das Schlimmste sind die Kalaschnikows. Eine vergleichsweise billige Waffe, die den menschlichen Körper am effektivsten zerfetzt.“ Wie es nach dem Studium für sie weiter geht, ist ungewiss, in der Türkei fühlen sie sich geduldet, aber nicht sehr willkommen. Die wichtigste Währung, die sie vorzuweisen haben, ist ihre Bildung, für die sie mit Hingabe arbeiten, sie ist am ehesten zukunftsversprechend. Sie haben nicht wie ich Türkisch gelernt, weil sie Interesse an fremden Sprachen haben, sondern um den neuen Alltag zu überleben, sie haben den Aufenthalt hier nicht gewählt, um ihren Horizont zu erweitern, sondern um sich zumindest physisch vom Krieg zu distanzieren. Sie leben in einer absolut anderen Realität als ich, doch gleichzeitig sitzen sie täglich genau neben mir im Hörsaal.

Nach meiner Rückkehr aus dem Austauschjahr hatte ich das Glück, meinen Studentenalltag in einer fabelhaften Berliner WG, Tür an Tür mit einer Mitbewohnerin zu beginnen, die mich inspiriert hat, mein Weltbild immer wieder aufs Neue zu hinterfragen. Als Ethnologie Expertin machte sie mich mit dem Konzept ‚Privileg’ vertraut. In abendlichen Diskussionen am Küchentisch redeten wir über dieses Phänomen, das uns als Westeuropäer die Welt anders, ja oft unbekümmerter, gedankenloser als andere Menschen erleben lässt. Bei der Wohnungssuche wird meine finanzielle Absicherung nicht angezweifelt, würde ich in ein anderes Land auswandern, niemand würde meinen legalen Aufenthaltsstatus anzweifeln, sterben Menschen meiner Nationalität bei einem Bombenattentat, ist dies in den Medien höchstpräsent, eine lange Liste von Selbstverständlichkeiten, die ich nicht erkämpfen musste. Die einzigen Momente, in denen ich je Angst um mein Leben hatte, waren nicht etwa wegen einer Attacke von Nazis, oder während ich von Polizisten verprügelt wurde oder weil meine Stadt vom Krieg verstümmelt wird, sondern während eines Rockkonzertes inmitten des Moshpits und während einer Besteigung eines Vulkans in Ecuador bei der ich Kreislaufprobleme bekommen hatte. Ich bin in Frieden aufgewachsen, und mir stehen viele Türen offen, die anderen Menschen nicht offen stehen, ohne dass ich explizit etwas dafür getan hätte, sondern schlicht und einfach weil ich in einem Teil dieser runden Welt geboren bin, der als Westen bezeichnet wird, auf einem Stück Land, das der deutschen Fahne zugeordnet wird, mit einer Hautfarbe, die als nicht exotisch, gar als die Norm bezeichnet wird. Wer sind „Wir“ und wer sind „die Anderen“, wo hört das eine auf, wo fängt das andere an? Wieso habe ich Rechte, die anderen verwehrt werden, wie können Mitmenschen auf ihr gesellschaftlich kreiertes Recht beharren und Kriegsüberlebenden dieses vorbehalten wollen? Wir sind alle Menschen, und es geht uns alle etwas an, und wenn besorgte Bürger auf die Straße gehen, dann weil sie sich plötzlich ihres Privilegs bewusst werden und besorgt sind, dieses zu verlieren. Wenn Deutsche kritisch, zynisch, abweisend gegenüber Geflüchteten stehen, wenn rechte Tendenzen laut werden, dann weil unverdiente Privilegien in Gefahr gesehen werden.

Besonders jetzt möchte ich mir meine Prägung und daraus entstehende Vorurteile bewusst machen, und mich erinnern, dass andere Prägungen nicht besser oder schlechter, nicht richtig oder falsch sind, sondern einfach anders.
 Ich möchte mir meinen Privileg und daraus entstehende Blindheit erneut bewusst machen, und sehe es als meine Pflicht als menschliches Wesen, zuzuhören wenn Menschen wie Raed, Nezar und Mohammed eine für mich unvorstellbare Geschichte erzählen, hinzusehen, wenn Menschen vor dem Krieg fliehen und aktiv zu werden, mit meiner Stimme, die entschieden für die Willkommenskultur ruft, und mit der Bereitschaft, ungeschriebene Regeln zu hinterfragen. Ich denke, ich bin damit nicht allein. Dies ist die Chance für die „besorgten Bürger“, sich eigene unverdiente Vorteile bewusst zu machen, und sich zu fragen, ob sie diese um den Preis der Menschlichkeit verteidigen möchten.



Die Angst vor dem Fremden (SWR):
http://www.ardmediathek.de/tv/odysso-Wissen-im-SWR/Die-Angst-vorm-Fremden-Was-steckt-wirk/SWR-Fernsehen/Video?documentId=32107660&bcastId=246888

Was ist White Privilege?:
https://en.wikipedia.org/wiki/White_privilege

Song von Macklemore zur aktuellen Debatte in den USA:
http://www.whiteprivilege2.com


Prägung verstehen:
http://www.eee-yfu.org/coloured-glasses/


COLORS of Istanbul: Yellow // Gelb


Moda

Taksim Platz

Burgaz Ada

Eminönü
Kadiköy

Kabatas

Burgaz Ada

Besiktas
Sirkeci

Kadiköy
Grand Bazaar

Burgaz Ada

Kadiköy

Anadolu Kavagi
Kadiköy
Besiktas

Bergama
Besiktas

Izmir

Izmir


Zisterne


Blick von Galata

Galata Turm

St. Antoine

Kadiköy
Besiktas

Zisterne

Blick von Eminönü

Galata Brücke




Besiktas
Kadiköy
Besiktas


Mittwoch, 13. Januar 2016

Anschläge, Attentate, Alltag - zum Bombenanschlag in Istanbul

Nach einer Geburtstagsparty, auf der ich stolz herausfinden konnte, wie ein bisschen Bier meine Fähigkeit zum Türkisch-Sprechen erheblich verbessert, wollte ich gestern nicht so recht auf den sanften Weck-Ton meines Telefons hören. Diese Woche führt mir bisher mein Scheitern an der selbstständigen Zeiteinteilung vor Augen, denn Vorlesungen muss ich diese Woche in meiner türkischen Uni nicht besuchen, muss nicht jeden Morgen den langen Weg auf die historische Halbinsel, in die Moscheen-gesäumte Altstadt der Makro- äh, Metropole antreten, sondern kann die freie Zeit für ausgiebige Prüfungsvorbereitung nutzen - eigentlich. Gestern wachte ich also wenn auch nicht früh, dafür halbwegs motiviert auf, um endlich meine Phase der Produktivität zu starten. Wie es eine leidige Angewohnheit meiner Informations-Gesellschafts-Generation ist, öffne ich als erste Aktion des Tages den Laptop. Es ist 10:50 Uhr, und eine Nachricht von einem Freund, der als Journalist arbeitet, informiert mich sogleich, dass eine halbe Stunde zuvor eine Explosion den zehn Kilometer entfernten touristischen Stadtteil Fatih erschüttert hat. Noch müde versuche ich, diese Information zu verarbeiten und stelle etwas irritiert fest: überrascht, geschockt, sprachlos bin ich nicht. Ich erinnere mich an die Worte meiner Mitbewohnerin, die vor ein paar Wochen nach Ausschreitungen der Polizei gegen Zivilisten schulterzuckend meinte, es wäre zu erwarten gewesen. Geschockt war ich zu der Zeit noch über die Gelassenheit, mit der schlechte Nachrichten von meinen türkischen Freunden aufgenommen werden, nun scheine ich selbst eine Art Abgestumpftheit entwickelt zu haben.

Noch bevor ich dazu komme, meinem Körper Frühstück zu gönnen, bleibe ich am Bildschirm kleben, durchforste die spärlichen Berichte, die sich so kurz nach dem Ereignis überhaupt finden lassen, habe aber dank Reporter-Freund eine Art persönlichen und vertrauenswürdigen News-Stream. Ich denke als erstes nicht daran, dass ich dort hätte sein können, stattdessen denke ich an meine Familie. Ohnehin sind sie angespannt, das Küken der Familie in einer Großstadt, in einem Land, dass an ein Kriegsgebiet grenzt, zu wissen. Also schicke ich die kurze Botschaft „Mir geht’s gut!“ nach Deutschland. Vergessen hatte ich jedoch, dass in meiner Familie alle Generationen über der meinen nicht in der Welt der ständigen Information und Aktualisierung leben, und so bekam ich liebreizende Antworten im Format „Wie schön, möge es noch lang anhalten! Mir geht es heute auch gut.“ zurück.

Der Grund für die karge Berichtslage ist eine Nachrichtensperre, die kurz auf den Anschlag folgend verhängt wurde, auch das ist etwas, das mich nicht überrascht, hat die Presse doch seit Wochen wortwörtlich nichts mehr zu melden in diesem Land. Stattdessen eine Erklärung der Regierung höchstpersönlich, die bereits nach wenigen Stunden den Täter identifiziert zu haben scheint. Mein Aufenthalt hier hat mich leider gelehrt, der türkischen Regierung keinen Glauben zu schenken, zu oft werden Tatsachen verdreht, das eigene Volk betrogen und misshandelt, Andersdenkende als direkte Bedrohung empfunden und inhaftiert oder anderweitig aus dem Weg geschafft. Noch kurz zuvor hatte der werte Präsident in einer Rede gegen eine Petition gewettert, in der Intellektuelle ihn auffordern, den Krieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes zu beenden. Seit Wochen kursieren Bilder von verhungernden Menschen in jenem Teil der Türkei, Gebiete, die vom Militär seit Wochen von der Außenwelt, von medizinischer Versorgung, von Nahrungsmitteln abgeschnitten sind, einige Menschenrechtsorganisationen warnen vor drohendem Kannibalismus. Das dies kritisiert wird, von Unterzeichnern wie Noam Chomsky, wird von Erdoğan augenscheinlich als persönliche Beleidigung empfunden, er droht mit Haftstrafen gegen lokale Unterzeichner und lädt internationale Unterzeichner ein, sich selbst davon zu überzeugen, die Verletzungen von Menschenrechten, die im Südosten des Landes geschehen, seien die Taten von Terroristen, nicht die des Staates. Um dies als absurde Äußerung zu entlarven, reicht es, unabhängige Medien zu verfolgen, Berichte internationaler Beobachter zu lesen, oder aber, ohne sich in ein Gebiet des Bürgerkrieges zu begeben reicht es aus, wie ich in Istanbul zu leben, um Menschenrechtsverletzungen der Regierung und Polizei an eigenen Bürgern zu bezeugen (siehe hierzu z.B. meinen Artikel „Wütende Augen weinen – mein erster Tränengasrausch“). 

Diese Verdrehungen von Tatsachen, Ungerechtigkeiten gegen Zivilisten beschäftigen mich seit meiner Ankunft hier vor vier Monaten, und haben mich dazu bewegt, mit dem Aufschreiben, mit dem Informieren von deutschen Freunden zu beginnen. Bisher schienen außer einer Handvoll guter Bekannter aber nicht viele Zeit gehabt zu haben, zuzuhören, in deutschen Medien suchte ich bisher vergeblich nach ausführlichen Recherchen und Kommentaren, zum Beispiel nach dem schrecklichen Attentat von Ankara, bei dem über 100 Menschen zerfetzt wurden. Nun aber die erschütternde Nachricht: unter den Opfern befinden sich Deutsche. Dass Menschen sterben als Opfer des Terrors ist unvorstellbar schrecklich, doch auch dieser Anschlag ist für mich einer von vielen, die in den letzten Wochen, Monaten, Jahren unsere Welt erschüttern. Mein Abenteuer Auslandsaufenthalt in der Türkei hat mich gelehrt, wie sich eine Hierarchisierung von Toten nach Attentaten für meine türkischen Freunde anfühlt. Schon nach den Ereignissen von Paris war mir dies aufgefallen („Weltzentrismus – Überlegungen zu den Anschlägen in Paris“). Nicht erst seit gestern empfinde ich Terrorismus als nahe, als reale Bedrohung, doch nun da Deutsche erstmals in größerem Ausmaß ‚persönlich’ betroffen sind, erlangt das Thema im Zusammenhang mit der Türkei eine neue Welle an Aufmerksamkeit in den Medien. Dies ist zutiefst menschlich, auch ich würde die türkische Politik nicht so aufmerksam verfolgen, wie ich es derzeit tue, wäre dieses Land nicht meine vorläufige Heimat. Umso mehr hoffe ich, Berichte, wie ich sie gestern in der ARD Sendung „Brennpunkt“ gesehen habe, werden nun häufiger und das Geschehen hier damit realer für Deutschland, welches sich jüngst die Türkei als Partner in der Syrien-Krise angelacht hat. Es wurde nämlich in der Sendung darauf hingewiesen, dass die türkische Regierung, die sich nach außen als großer Bekämpfer des Terrorismus aufspielt, nebenbei noch einen ganz anderen Krieg, nämlich gegen die eigene kurdisch-stämmige Bevölkerung führt. Die Menschen hier werden nicht von ihrer eigenen Regierung geschützt, und vielleicht ist mit diesem traurigen Anschlag ein Aufrütteln geschehen, vielleicht wird man die bisher übermäßig freundliche Position gegenüber der Türkei, vor dem Hintergrund, in Fragen von Migrationspolitik auf sie angewiesen zu sein, überdenken müssen. Die Türkei spielt eine komplexe Rolle im wirren Konflikt um Syrien und Terror, und hat sich in letzter Zeit viele Feinde gemacht.

Den gestrigen Tag habe ich also damit verbracht, SMS und Nachrichten von besorgten Freunden zu beantworten, und ich wurde gebeten, vorsichtig zu sein. Was damit gemeint ist, ich bin mir nicht sicher, wie befolge ich die Bitte „Pass auf dich auf!“?  Das Auswärtige Amt riet, sich von größeren Menschenansammlungen fernzuhalten, was mein überfordertes Gehirn überlegen ließ, sind 10 Menschen, die auf den Bus warten, eine Menschenansammlung, 50 Menschen, die in einem Restaurant speisen, 100 Menschen, die in einem Hörsaal sitzen? Eher aus Gebanntheit und Faulheit als aus Terrorangst bin ich dann einfach zu Hause geblieben, vor dem Laptop, vor dem Smartphone, und habe mich doch den Ereignissen näher gefühlt, als gedacht. Gegen Abend hat meine Mutter dann wohl den Fernseher in einer Kleinstadt in Brandenburg angeschaltet und realisiert, was es mit meiner Nachricht vom Vormittag auf sich gehabt hatte. Ein ihrerseits bestürztes Telefonat folgte, ich erklärte ich könnte nur kurz reden, weil ich gerade im Türkisch Kurs sitze, woraufhin sie fragte, ob ich denn dort bleiben wolle. Ich war kurz verwirrt, natürlich möchte ich im Türkisch Kurs bleiben, ich möchte mich doch besser verständigen können! Dass sie damit meinte, ich solle nach Berlin zurückkehren, wie ihre Freunde es ihr nahegelegt haben, überraschte mich zunächst, da ich mich schon in anderen Situationen hier bedrohter gefühlt habe, andere Ereignisse von größerem Ausmaß mich eher ins Grübeln gebracht hatten (siehe "Die rote Fahne - der Anschlag von Ankara"). Damit möchte ich nicht relativieren, was geschehen ist, vermutlich ist die mentale Banalisierung der Geschehnisse nicht zuletzt ein Abwehrmechanismus meines Gehirns, um mich nicht in Panik verfallen zu lassen. Meine Mutter hat dann aber auch festgestellt, dass sie leider nicht ausschließen kann, dass das Gleiche in Berlin hätte passieren können. Immerhin ist Deutschland vor ein paar Wochen überstürzt in den Krieg eingetreten, hat sich somit seinerseits neue Feinde gemacht.

Auch Deutschland liefert Waffen in ein Kriegsgebiet, die in falsche Hände geraten können. Ich bin keine Expertin von Terror, von Krieg, von Politik, herrje, nicht einmal Expertin von dem, was ich studiere. Aber ich beobachte mit deutscher Prägung tief in meinem Wesen verankert, was hier geschieht, und hoffe, dass nun, da es um deutsche Opfer geht, besser spät als nie genau hingeschaut wird, präzise ermittelt wird, und die Rolle der Türkei in der sogenannten ‚Fluchtursachenbekämpfung’ und im Kampf gegen den Terror hinterfragt wird. Denn der Terror der von der Regierung gegen die eigene Bevölkerung verübt wird, und öffentlich wiederum vehement negiert wird, will nicht so recht in das Bild passen, in das Bild des neuen Freundes Türkei, mit dem Deutschland versucht, die Terror-Krise in und um Syrien einzudämmen.

Ich bin zutiefst bestürzt über die Ereignisse von gestern, gleichzeitig wohlauf, aus Glück. Nicht zuletzt hatte ich bis hierhin soviel ‚Glück’ von menschenverachtenden Geschehnissen verschont zu bleiben, weil ich in einem der reichsten und stabilsten Länder der Welt aufgewachsen bin, in welchem ich, soviel es auch zu kritisieren gibt, noch nie derartige Menschenrechtsverletzungen von Regierungsebene aus beobachten musste, wie ich es hier tue. Ich habe mich in ein neues Umfeld begeben, um neue Realitäten kennen zu lernen, unter Anderem muss ich hier realisieren, wie unterschiedlich mein Leben als Westeuropäerin im Vergleich zu klügeren, innovativeren, kreativeren jungen Menschen verläuft, die aber in der Türkei geboren sind, schon einige Freunde durch Bombenanschläge verloren haben und schon unzählige heftige Situationen in ihrem Leben durchstehen mussten. Darum hoffe ich, dass der grausame Tod der Deutschen auf türkischem Boden auch dazu führen kann, die grausamen Tode zu beleuchten, die türkische Staatsbürger jeden Tag auf dem selben türkischen Boden sterben.



 http://www.ardmediathek.de/tv/Brennpunkt/Deutsche-Terroropfer-in-der-Türkei/Das-Erste/Video?documentId=32735194&bcastId=1082266

http://www.ardmediathek.de/tv/Tagesthemen/tagesthemen/Das-Erste/Video?documentId=32738078&bcastId=3914

http://www.handelsblatt.com/politik/international/explosion-in-istanbul-wann-sorgt-erdogan-fuer-frieden/12819802.html


http://www.hurriyetdailynews.com/erdogan-slams-academics-over-petition-invites-chomsky-to-turkey.aspx?pageID=238&nID=93760&NewsCatID=338

http://www.welt.de/politik/ausland/article150963410/Warum-die-schnelle-Taeter-Identifizierung-seltsam-ist.html

Montag, 11. Januar 2016

Distanzierungsversuche und abartige Annäherungserfolge - zur Silvesternacht in Köln

Dieser Artikel wurde auf dem Blog der "Störenfriedas" veröffentlicht: 
http://diestoerenfriedas.de/distanzierungsversuche-und-abartige-annaeherungserfolge-zur-silvesternacht-in-koeln/

Zum Jahreswechsel wurde meine neue Heimat Istanbul in einen unerwarteten Schneeschleier gehüllt, und alles schien gedämpft zu erklingen, nicht vergleichbar mit den nebeligen Bildern aus meinem eigentlichen Kiez in Berlin, wo immer absolut laute und chaotische Zustände herrschen, wenn die Uhr zwölf schlägt. In den folgenden Tagen erschienen in den sozialen Medien, die ich besuche, immer wieder Artikel und Kommentare zu Köln in der Silvesternacht. Lange habe ich es gemieden, ausführlicher zum Thema zu lesen, was ich heute nun nachgeholt habe. Schlagartig habe ich schlechte Laune, die Worte ‚sexualisierte Gewalt’ hallen in meinem Kopf wie ein zu oft gehörter Song und sofort melden sich persönliche Assoziationen und Gedanken an von mir erlebte Situation aus dem Unterbewusstsein zu Wort.
Medien gegenüber habe ich gelernt, skeptisch zu sein, aber doch kommen von allen Seiten ähnliche Informationen, dass sich eine riesige Gruppe von Männern, die in einer unter anderem durch Alkohol enthemmten Stimmung gewesen zu sein scheinen,  versammelt hat und sich ein Fest daraus gemacht hat, ihre Hände zwischen die Beine fremder Menschen zu stecken.
Ich spüre in mir, als wäre es gestern gewesen, die Wut, von dem Abend vor zwei Jahren, als ich in einem Club an einer Bar stand, und die blitzartige Bewegung einer Hand spürte, die sich nicht nur zwischen meine Beine, sondern samt Strumpfhose in mein Inneres bohrte. Zutiefst perplex schnellte ich herum, und vor mir ein Gesicht mit einem herausfordernden, selbstbewussten Grinsen. Ich bin nicht stolz darauf, wie die Situation geendet ist, sagen wir so, der schmächtige Möchtegern-Macho hat nicht mit der unkontrollierten Kraft gerechnet, die ich anscheinend entwickele, wenn jemand derart meine persönlichen Grenzen überschreitet. Ich war sehr wütend, einige Minuten später aber, als sich das Adrenalin langsam aus meiner Blutbahn verflüchtigt hatte, musste ich weinen. Ich kam mir so machtlos vor, so dis-respektiert und verspottet. Ich kann mir leider vorstellen, wie die Situation anders hätte ausgehen können, hätte der Kerl damals seine Gruppe von Freunden mitgebracht. Darum bin ich so entsetzt, so unfassbar aufgebracht über diese Idioten, die sich zusammentuen, um in der Überzahl andere zu erniedrigen.
Die Situation der Enge und Bedrängung wiederum erinnert mich an die ein oder andere Bahnfahrt in einer überfüllten U-bahn in Berlin, wo manchmal eine Hand in meinen Po kneift, oder jemand seinen Schritt mit erigiertem Glied an meine Hüfte drückt. Nur der Gedanke daran verzieht mir das Gesicht, und traurig erinnere ich mich an sehr ähnliche Geschichten von Freundinnen, immer mal wieder Thema bei uns, nichts neues eben. In solchen Gesprächen frage ich mich immer, wie jemand dazu kommt, so etwas zu tun. Kluge Menschen, die sich auf einer täglichen Basis mit dieser Frage beschäftigen, können gewiss eine bessere Antwort geben als ich, fast alle sind sich aber einig, dass Sozialisierung ein wichtiger Teil der Gleichung ist. Wenn jemand die Grenzen eines Anderen respektlos überschreitet, dann weil er in einer Welt (und ja, ich meine Welt, nicht Gesellschaft) aufwächst, in der dies geduldet wird und die Erfahrung ihm gelehrt hat, dass keine größeren Konsequenzen daraus erwachsen, wenn man etwas wie sexualisierte Gewalt instrumentalisiert, um sich überlegen zu fühlen.
Dieses Dilemma ist mir einmal schmerzlich bewusst geworden, als ich von einem Jungen, den ich auf vielleicht 14 Jahre schätze, angefasst wurde. In seinen Augen das gleiche siegessichere Lächeln wie ich es schon kenne. Ich gehe wütend auf ihn zu, am liebsten möchte ich ihn schütteln, aber ich halte sofort inne, als ich sehe, wie jung er ist. Wer hat ihm beigebracht, dass dies ein lustiges Spiel ist? Vielleicht ein älterer Bruder, vielleicht aber auch einfach nur eine der Soap-Geschichten, die auf bunten Bildschirmen jeden Tag erzählt werden. Wie viel von seiner Tat ist seine Schuld, inwieweit kann er sie verantworten und würde eine Reaktion von mir in die eine oder andere Richtung überhaupt einen neuen Gedanken in seinem Kopf formen?

Bei all der Fassungslosigkeit über die Silvesternacht vergessen wir, dass sexuelle Belästigung nicht etwas ist, dass nun seit der Einwanderung von Kriegsüberlebenden an Deutsche Menschen, Frauen, als neuartiges Konzept herangetragen wird. Welch gruselige Ereignisse erhöhter Alkohol-Blutspiegel gepaart mit Gruppendynamik und immer-noch-vorherrschendem Männerbild entstehen lassen kann, weiß ich von vertraut erscheinenden Situationen wie WG-Parties. Oder aber von Fahrten im Regionalzug durch Brandenburg, nachdem sich hunderte betrunkene Hertha-fans vom Stadium wieder zurück auf den Weg in ihr Kaff machen und unterwegs versuchen, „noch ein paar Mädels klar zu machen“.
Wir leben bereits in einer Gesellschaft, in der sexualisierte Gewalt eine Realität ist, über die bis vor ein paar Tagen aber kaum gesprochen wurde. Es werden Arten der Diskriminierung miteinander vermischt, und eine Hierarchie lässt sich erkennen. Frauenrechtsgruppen kritisieren nämlich im Kontext von sexueller Gewalt, dass den Opfern oft zu wenig Glauben geschenkt wird („Bist du sicher, dass du es nicht wolltest?“/“Aber das ist doch der Sohn von Monika, kann ich mir nicht vorstellen, dass der so etwas macht!“) oder sie selbst für den Vorfall verantwortlich gemacht werden („Du bist aber auch betrunken gewesen!“/ „Bei der Kleiderwahl fühlen sich Männer eben eingeladen!“) . Dies ist bei der Debatte um Köln nicht der Fall, es steht in der öffentlichen Meinung außer Frage, die Schuld bei den Tätern zu suchen, wie es im Idealfall eigentlich passieren sollte. Aber es geschieht aus den falschen Gründen, nämlich weil die Täter in der Hierarchie der Diskriminierung noch eine Stufe tiefer stehen, als Frauen, sie sind nämlich sogenannte ‚Ausländer’. Es wird verallgemeinert, und die Gruppe der Andersartigen, der Fremden, für Probleme verantwortlich gemacht, die schon immer bestehen, die perfekte Lösung für das reine Gewissen der deutschen Menschen.

Ich erinnere mich nur allzu gut an einen Zusammenstoß mit einem Taxi, mein schönes Rennrad hatte eine kleine Schramme in die Beifahrertür geritzt. Was folgte war eine unnötig lange Serie an Begutachtungen, der Taxifahrer wollte mich zusätzlich für einen Schaden am Heck bezahlen lassen, den ich nicht verursacht haben kann. Wenn ich in der Geschichte erwähnte, dass der Taxifahrer Türke ist, hörte ich manchmal Kommentare die nahelegten, dass die Türken ein Volk seien, das seine Autos sehr liebe und auch vor Betrug nicht zurückschrecken würde, kämen sie zu schaden. Ich entgegnete in der Regel, dass ich finde, der Taxifahrer sei ein Arschloch, ob er nun ein türkisches oder ein deutsches Arschloch ist, macht für mich eigentlich keinen Unterschied. (Am Ende musste unsere Versicherung das unnötige Geld übrigens nicht bezahlen). So finde ich auch vor allem wichtig, über die Ausschreitungen und den Sexismus in Köln zu reden, welchen Pass jemand trägt, der so etwas tut, bessert oder verschlechtert mein Bild von jenem Arschloch aber nicht.

Damit möchte ich verdeutlichen, widerliche Sexualstraftaten und auch der gute alte Alltagssexismus sind keine Dinge, die ich akzeptieren kann. Genauso wenig kann ich aber hinnehmen, wenn ihre Ursachen banalisiert und verzerrt dargestellt werden indem die Kölner Vorfälle für fremdenfeindliche Stimmungsmache missbraucht werden.


Im Internet kursieren Bilder von männlichen Immigranten, die Schilder halten, auf denen sinngemäß steht: ‚Liebe Deutsche Frauen, wir sind entsetzt über die Vorfälle und wollen uns ausdrücklich davon distanzieren!’ Dies zeigt die Hierarchie, von der ich vorhin sprach: gehört man zu einer Minderheit, und begeht ein Mitglied jener Gruppe ein Vergehen, wird die Gruppe der Minderheit als Ganzes angeklagt, so wie zuletzt von Muslimen verlangt wurde, sie sollen sich vom IS distanzieren (von Verallgemeinerungen die ‚Minderheit’ Frauen betreffend, welche die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen, möchte ich gar nicht erst anfangen). In diesem Sinne möchte ich mich als deutsche Frau ausdrücklich bei allen Kriegsüberlebenden, die im Moment in unserem Land Schutz suchen, entschuldigen, für Deutsche Menschen, die die für euch neugebauten Unterkünfte anzünden, ich distanziere mich von Menschen, die euch Gewalt antun, euch böse Blicke zu werfen, euch das Gefühl geben, ihr seiet unerwünscht, ich bin entsetzt über Pegida Demonstrationen und schäme mich für Menschen meines Landes, die Herkunft wichtiger finden, als Menschlichkeit.

http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/videos/sexuelle-gewalt-und-migranten-102.html

http://www.tagesspiegel.de/politik/debatte-um-fluechtlinge-und-die-uebergriffe-von-koeln-die-gespaltene-nation/12817634.html

http://ausnahmslos.org

http://diestoerenfriedas.de/die-farce-von-koeln/

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-01/sexmob-koeln-kriminalitaet-strafrecht-fischer-im-recht