Istanbul//Berlin: Geschichten, Gesichter, Gedanken, Politik, Stimmen, Farben, Orte, Auseinandersetzen und Zusammensitzen, Traumata und Träume.

Istanbul//Berlin: stories, faces, thoughts, politics, voices, colors, places, examinations and integrations, trauma and 'Träume' (dreams).

Sonntag, 20. Dezember 2015

STORIES of Istanbul: Mein erster Tränengasrausch


Heute habe ich mich wieder daran erinnert, wie ich in meinem ersten Semester an der Uni einen Nebenjob als Komparsin hatte, um etwas Geld dazu zu verdienen. Einmal haben wir im Filmpark Babelsberg einen Werbespot für Dacia gedreht, in dem wir eine Demonstration nachgespielt haben, in der Reiche für ihren Status und gegen die günstigen Preise der Automarke protestieren. So bin ich in albernem Burberry-Hut und Trenchcoat zwischen anderen Schauspielern und Komparsen marschiert, neben Schmuckbehangenen Rentnern die aus ihren Golfkarren Parolen riefen. Das Filmteam hat nicht an Kosten und Mühen gespart, um das Ganze so echt wie möglich aussehen zu lassen, und so gab es auch eine Horde großer Männer im Polizeioutfit mit Plastik-Schlagstöcken, Nebelmaschinen und bei den Demonstranten Champagner Flaschen als Munition. In dem Gewusel hatte ich für eine Sekunde wirklich einen Schrecken bekommen, als von irgendwo her ein Knall ertönte, nur um mich kurz darauf zu erinnern, dass dies ja alles vom Regisseur geplant war. Es war ein großes Spektakel, und während ich im Rauch so getan habe, als würde ich vor den Einsatztrupps fliehen, dachte ich bei mir, bloß gut, dass das alles nur Show ist. In meiner kleinen behüteten Welt war dies bisher für mich der einzige so nahe Kontakt mit vermeintlichen Uniformierten gewesen. Dies sollte sich heute ändern.



Heute war ein ungewöhnlich sonniger Tag, an dem ich über die Istiklal Straße geschlendert bin, wo es von Menschen und Verkäufern wimmelt, um ein paar Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Als ich mir gerade eine dieser schönen Minitassen anschaue, aus denen türkischer Kaffee getrunken wird, schiebt mich der Verkäufer in den Laden und sagt, ich soll erst einmal dort bleiben. Erst jetzt merke ich, dass es auf der kleinen Seitenstraße wuseliger geworden ist, Menschen rennen in verschiedene Richtungen, und ein paar Meter entfernt auf der Istiklal sind Rufe zu hören und Polizisten reihen sich auf. Ich rufe meinen Freund Emre an, er weiß immer Bescheid, was gerade los ist, wenn es um politische Proteste geht. Er sagt, es gibt eine Demo gegen das militärische Eingreifen gegen Kurden im Südosten der Türkei, und dass ich bitte vorsichtig sein soll.

Das bin ich, aber die Seitenstraßen sind zu einem Labyrinth voll umher eilender Menschen geworden, ich sehe, wie sich Familien im Gedränge vom Geschehen weg zu bewegen versuchen, ein kleines Mädchen hält sich gekonnt ihren Schal vors Gesicht. Von der Hauptstraße weht nämlich ein seltsamer durchsichtiger Nebel, und ich brauche eine Weile um zu realisieren, dass dies Tränengas ist, und alle genau wissen, was los ist, sie scheinen Erfahrung zu haben. Ich irre in den nächsten Minuten durch die Gassen, wohl nicht ganz geistesgegenwärtig, aber kritzele mit Bleistift in mein kleines Notizbuch, um mich später an alles zu erinnern.


























Auf der Istiklal Straße geht es hektisch zu, alte Männer, junge Paare, laufen gebeugt und hustend wie von einer plötzlichen Grippe befallen in alle Richtungen, ein Kind weint, weil es Angst hat, ein anderes, weil seine kleinen Augen das Tränengas, das in der Luft hängt, nicht verkraften. Als in der Ferne ein Knall ertönt und Rauch aufsteigt, setzt sich ein Trupp gepanzerter und bewaffneter Polizisten in Bewegung, in den Augen einer Mutter mit Kinderwagen sehe ich das blanke Entsetzen, sie ist eben noch zum Sonntags Shopping hier entlang spaziert, und ich helfe der Familie, in eine Nebengasse zu eilen. Ein Polizei Helicopter kreist unerlässlich über die Szene, Ladenbesitzer lassen ihre Rollos herunter, ein paar Frauen rennen in ein Schuhgeschäft und schauen mit tränenden Augen zwischen den Winterstiefeln aus dem Schaufenster, ein Mann, der laut irgendetwas ruft, wird von vier Polizisten in einen Mannschaftswagen gezerrt, eine Gruppe von Frauen halten sich die Zipfel ihrer Kopftücher vor das Gesicht, die Sirenen von Krankenwagen mischen sich zwischen das Husten und die Lautsprecher, die von den Panzern tönen, eine Touristin zieht rennend ihren Rollkoffer hinter sich her, ein Zuckerwatte Verkäufer steht unbeeindruckt an einer Ecke, die Frau am McDonalds-Schalter schiebt die Scheibe zu, jetzt wird es wohl erst einmal keine Bestellungen mehr geben. Mein schöner Schal, den ich mir vor kurzem gekauft habe, dient nun als meine provisorische Gasmaske, mit der einen Hand halte ich mir die Nase zu, mit der anderen umklammere ich mein Telefon.

Immer wieder scheint es zwischenzeitlich, als habe sich die Lage beruhigt, Menschen stecken den Kopf aus den Türen der Geschäfte heraus, in denen sie sich in Schutz gebracht haben. Doch dann ertönt wieder ein Sprechgesang einer kleinen Gruppe von Demonstranten in einer Nebenstraße, und die nächste Gruppe Polizisten setzt sich in Bewegung, mit Gasmasken und Schlagstöcken, gefolgt von einem Panzer, dessen Wasserwerfer auf dem Dach in Position gebracht wird, sie verschwinden in einer Seitenstraße und man hört wie Gasgewehre gefeuert werden.


Nach einer Weile scheint es ruhiger zu werden, und ich muss kurz verwirrt darüber lächeln, wie routiniert und selbstverständlich alle mit der Situation umgehen. Neben mir fährt ein Rollo hoch, dahinter steht ein Mann, der sich gerade einen Kumpir gekauft hat und froh scheint, dass er ihn nun doch nicht verbarrikadiert, sondern im Freien mampfen kann, ein Imbiss Besitzer, an dem ich vorbeilaufe sagt ganz automatisch seinen Standardsatz „Bitteschön, was möchten Sie?“, ein Mann nimmt die Schwimmbrille ab, mit der er sich vor dem Gas geschützt hatte, und ein Zivilpolizist, mit einer Gasmaske in seiner Hand baumelnd, kauft erst einmal einen Simit, ein anderer lehnt lässig an einer Graffiti-Wand und raucht, während er telefoniert.

 

Von meiner Schreckstarre erwacht mache ich mich durch Nebenstraßen auf den Weg, um mich von der Situation zu entfernen, als mich plötzlich ein riesiger Schwall von Tränengas überwältigt, der in einer unscheinbaren Gasse in der Luft hängt, und meine Nase scheint entflammt zu sein, meine Augen tränen und mein Hals kratzt, und ich stolpere in ein Keramik-Geschäft, wo ich mit Taschentüchern versorgt werde. Eine Kundin scheint genervt und fragt sich laut, wann sie denn endlich den Laden verlassen könne. Nach einer Weile versuche ich, mich auf den Heimweg zu machen und komme durch eine kleine Straße mit Lokalen und Restaurants, hier scheint niemand etwas mitbekommen zu haben, alle sitzen gemütlich beim Essen und plaudern, mit Selfie-Sticks werden Erinnerungsfotos geschossen. Wie viel Zeit vergangen ist, kann ich nicht genau sagen, aber es scheint, als habe sich die Unruhe gelegt, und ich laufe dem Ende der Istiklal entgegen, wo Emre in seinem Büro auf mich wartet.
 



In meinem Kopf ist überraschende Leere, und ich notiere ein paar Beobachtungen weil ich weiß, dass mein Gehirn gerade nicht so hervorragend zu funktionieren scheint. Ich spüre, dass etwas nicht stimmt, bevor ich lokalisieren kann, was die Quelle dieser Ahnung ist, aber dann sehe ich, dass sich vor einem Starbucks eine laute Diskussion abspielt. Keine Polizisten zu sehen, nur eine Frau, die vom Alter gekrümmt mit herumstehenden Männern diskutiert, die alle eine ähnliche Mütze tragen. Sie redet mit leiser Stimme, die Männer schreien ihr ins Gesicht, die türkischen Worte ergeben keinen Sinn in meinem Kopf, aber die anderen Leute, die um die Szene herum stehen, entgegnen in tiefer Stimme, was wie Buh-rufe klingt. Eine jüngere Frau, vielleicht ihre Tochter, nimmt die Frau am Arm und versucht sie wegzuziehen. Ein paar Meter entfernt dreht sich eine andere Frau um, ungefähr so alt wie ich, vielleicht eine Studentin, und ruft laut etwas zu der Männergruppe. Dann geht alles ganz schnell, simultan scheinen alle die Fassung zu verlieren, einer der Männer schreit „Buraya gel!“, was heißt ‚Komm her!’ und sprintet in Richtung der jungen Frau, gefolgt von den anderen zehn Männern, die eben noch die alte Frau angeschrien hatten. Mein Bauch, mein Inneres zieht sich zusammen, mein Körper läuft rückwärts und stößt gegen eine Fassade, die Frau flieht, vor den Männern in den seltsamen Mützen, plötzlich tauchen aus einer Seitenstraße aber doch Polizisten auf, zücken ihre Schlagstöcke und rennen der Frau hinterher. Was sie geschrien hat, habe ich nicht verstanden, und habe sie danach aus den Augen verloren, und möchte eigentlich auch nicht wissen, wie die Situation für sie geendet ist. (Später wird mir Emre erzählen, die Mützen-Männer waren Zivilisten. Aber weil sie die gleiche Ideologie wie der Staat haben, geht die Polizei nicht gegen sie vor, wenn sie wie hier auf andere Menschen losgehen.) Nachdem die aus dem Nichts aufgetauchte Polizeimannschaft fast sachte mit einem leisen „Plopp, plopp-plopp“ weitere Gaspatronen in Richtung uns herumstehender Menschen kullern lässt, jogge ich zum Ende der Straße und in Emres Büro.



Im Büro angekommen schlürfe ich heißen Kaffee und merke erst jetzt, wie eisig meine Hände sind. Dieses Gefühl, als sich mein Inneres zusammen gezogen hat, versuche ich Emre zu erzählen, es ist schwer zu beschreiben. Ich kenne das nur aus Situationen, wenn ich früher als Kind Filme gesehen habe, in denen Polizisten mit Schlagstöcken auf Menschen losgehen, oder später wenn ich solche Szenen in den Nachrichten gesehen habe. Diese Situation, in der bewaffnete Menschen in Überzahl und Schutzkleidung über eine hilflose Person auf dem Boden gebeugt ist, hat für mich etwas elementar unmenschliches. Heute war es nicht nur eine Szene auf einem Bildschirm, sondern direkt vor meinen Augen hat sich eine solche Situation angebahnt, das hat mich sichtlich überfordert. Nach einer Weile Schweigen reden wir über die Gezi-Proteste, wie Emre sich damals mit seinen Freunden auch mit Taucherbrillen bewaffnet hat, wie sie als Demonstranten in der Überzahl waren, zu tausendst haben sie einfach dort gestanden, mitten auf dem Taksim Platz, um ein Zeichen zu setzen, für ihre Rechte, dem Tränengas zum Trotz. Er zeigt mir Fotos aus der Zeit, aber nur einige, denn dann werden seine Augen glasig und wir wechseln das Thema.

Ein kluges Fazit habe ich nicht parat. Ich kann nur sagen und bezeugen: das passiert hier, fast jede Woche, nicht nur an den routinierten Reaktionen der Menschen, die ich heute beobachtet habe, abzulesen. In Situationen, in denen Regime-Kritik mal wieder so laut wird wie heute, herrscht Willkür, es ist egal, ob die Demonstration friedlich ist, ob theoretisch gesehen Meinungsfreiheit herrscht, ob Kinder Tränengas abbekommen, wenn sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind, es ist egal. Rechte werden beschnitten, und Protest niedergeschmettert, und ein neuer Zorn gegen diese Ungerechtigkeit scheint wieder erwacht. Manchmal, wenn ich sehr wütend bin, muss ich anfangen, zu weinen. Ich kann es nicht lassen, und das macht mich noch wütender. Die Demonstranten heute waren außerordentlich zornig, und sie haben alle geweint. Weil sie Ihre Augen geöffnet haben, weil sie sehen, was passiert in ihrem Land, sie schauen hin, und in ihre wütenden Augen kriecht Tränengas, und das macht sie noch wütender.


https://www.rt.com/news/326591-istanbul-police-tear-gas/

http://en.cihan.com.tr/en/police-intervene-in-protestors-in-istanbuls-taksim-vCHMTk2OTQ4Nw==.htm



Sonntag, 29. November 2015

POLITICS in Istanbul: Allgemeine Alltags-Absurdität

Gestern bin ich durch meine vorübergehende Heimat geschlendert, vorbeigehend an Szenen, die für mich nach drei Monaten Normalität geworden sind, vorläufig adaptiert an die neue Realität, die mich umgibt. Mit einem Gast aus Deutschland, die dies alles zum ersten Mal sieht, und mich an meine vorherige Ankunft genau hier, am Taksimplatz erinnert.
Der Platz wimmelt von Stadtbewohnern, Tauben, Bauzäunen, Touristen, einigen Aktivisten und, natürlich, düster drein blickenden Polizisten. Die Istiklal Straße ist wie zu fast jeder Tages- und Jahreszeit bis an ihre Betonfassaden gefüllt mit Menschen, durch die wir uns schlängeln, um die Schönheiten der Stadt, den Galataturm, die Brücke übers Goldene Horn mit ihren Anglern, die abendlich beleuchteten Moscheen von Fatih und die überwältigende Vielfalt des Gewürzbasars zu bestaunen. Nach einem langen Tag mit Iskender und Efes, Çay und Ayran, erreichen mich abends die Bilder der Ausschreitungen auf ebendieser Route, inmitten der Istiklal Straße, wie Demonstranten augenreibend flüchten, Wasserwerfer der Polizei Menschenmassen auseinander reißen, wie gepanzerte und Gasmasken-bestückte Ordnungshüter gestikulieren und das Tränengas die Szene in einem flimmernden Filter erscheinen lässt. Ungefähr eine halbe Stunde zuvor muss ich genau dort gestanden haben, erklärte dem Besuch noch, wie in den letzten Wochen die gepanzerten Mannschaftswagen in der Innenstadt täglich anzutreffen sind, mit Polizisten die rauchend und scherzend daneben stehen, ihre Schilder am Zaun einer Schule lehnend. Ich verfolge vor meinem Laptop gebannt, wie ein britischer Reporter mit tränend roten Augen Schutz in einem Restaurant gesucht hat, im Hintergrund versucht einer der Kameramänner, sich das Tränengas aus den Augen zu waschen. Ich rufe meine türkischen Freunde an, und bekomme von allen die gleiche Reaktion der Gattung "Das ist doch ganz normal, so etwas passiert eben häufig." 
Und leider haben sie nicht Unrecht, was die Häufigkeit des Vorkommens angeht, normal ist das jedoch für mich noch keinesfalls geworden. Gerade erst letztes Wochenende hatte ich eine Szene an gleicher Stelle beobachtet, in der eine sehr übersichtliche Demonstration von ungefähr zwanzig Menschen von einer gleich großen Gruppe bewaffneter -und vor allem gewappneter- Polizisten begrüßt wurde. Eine Eskalation blieb aus, sodass ich einige hastige Bilder fotografieren konnte.
Kleine Demonstration gegen Russlands Eingreifen in Syrien

Kleines Polizeiaufgebot auf der Istiklal

In einiger Entfernung: die Helmträger haben sich positioniert


Der Anlass der von öffentlicher Seite vehement bekämpften gestrigen Demonstration war ein Trauermarsch für Tahir Elçi, ein kurdischer Menschenrechtsanwalt, der morgens bei einer Rede, in der er für türkisch-kurdischen Frieden plädiert hatte, erschossen worden war. Zuvor hatte er bei CNN geäußert, die Einstufung der pro-kurdischen PKK als terroristische Organisation sollte überdacht werden, unter Anderem wegen ihres Kampfes gegen den IS. Er war ein Mann von hoher Stellung und Achtung gewesen, der der Regierung ein Dorn im Auge gewesen ist, weshalb die Demonstranten am nachmittag der Regierung die (Mit-)Schuld an seiner Ermordung gaben. Dies ist leider nicht allzu abwegig vor dem Hintergrund, dass in der Vergangenheit auffällig häufig Regierungskritiker im Offenen wie im Verborgenen inhaftiert oder umgebracht wurden. Das letzte Beispiel dieser nicht enden wollenden Unterdrückungsserie war die Inhaftierung des Chefredakteurs der Zeitung Cumhuriyet, zuletzt noch für ihre kritischen Berichte zur Zeitung des Jahres gekürt, den nun eine lebenslange Haft erwartet, weil er mögliche Waffenlieferungen der Türkei an syrische Rebellen aufgedeckt hatte. Der deutsche Journalist, den ich hier kennen gelernt habe, arbeitet hier für die Cumhuriyet und erzählte mir, wie auch andere seiner Kollegen, die ich an einem Barabend kennenlernen durfte, unter Anklage stehen.
Im Internet kursiert das Video, das zeigt, wie bewaffnete Männer auf den kurdischen Anwalt zustürmen, und wie zwei Zivilpolizisten auf sie schießen, um sie aufzuhalten. Bemerkenswert ist, wie die Männer, auf die aus nächster Nähe geschossen wird, nicht aufgehalten werden können geschweige denn verletzt zu sein scheinen. Kurz danach hat die Kamera auch ein Detail festgehalten, welches wohl unabsichtlich dokumentiert wurde: einer der Polizisten wechselt die Waffe, mit der er auf die Angreifer gefeuert hat, aus. Spult man zurück, sieht man wie die Projektile die auf die Mörder gefeuert werden, von ihnen abprallen. Ich möchte gar nicht anfangen zu begreifen, was dies bedeutet. Ein regierungskritischer Anwalt, der in der Vergangenheit Menschenrechtsverstöße der türkischen Polizei aufgedeckt hat, wird angegriffen, die "Rechtshüter" die dies verhindern könnten, schießen mit harmlosen Waffen, und lassen der Ermordung ihren Lauf. Menschen, die über dies aufgebracht sind und von ihrem Recht der Meinungsäußerung Gebrauch machen, werden wie gefährliche Randalierer bekämpft, Journalisten, die über solche Vorfälle berichten, werden wie Verbrecher inhaftiert, die Justiz, die gegen solche fraglichen Vorfälle ermittelt und Ungerechtigkeiten ans Licht bringt, wird aus dem Weg geschafft. Dieser Teufelskreis verengt sich und die Rage der nicht nationalistisch eingestellten Bürger ist wieder erwacht.

Zuletzt, nach der Wahl Anfang des Monats war es nämlich gespenstisch ruhig geworden. Die Berechnung Erdoğans hatte ihm einen Wahlerfolg eingebracht, wobei die Menschen die im Angesicht der aktuellen "Unruhe" des Landes ihren Sicherheit-versprechenden Autokraten wiedergewählt haben, nicht realisieren zu scheinen, dass ebendieser seinerseits ein gerissener Unruhestifter ist, möchte man ihn euphemistisch beschreiben. Die Gespräche mit meinen türkischen Freunden waren von Ernüchterung dominiert, ein paar von ihnen sagten mir, nach diesem Wahlergebnis könnten sie sich das erste Mal vorstellen, ihre geliebte Türkei zu verlassen und auszuwandern. Ich frage mich, ob dies die Schlussfolgerung sein wird, ob der Großteil der klugen jungen Köpfe ernüchtert das Land verlassen wird, oder ob es zu einer neuen Protestwelle im Gezi-Stil kommen wird. Wenn es in Gesprächen um die Geziproteste von 2013 geht, funkelt es in den Augen meiner liberal eingestellten Freunde. Damals hatten sie das Gefühl gehabt, etwas bewirken zu können, verschiedenste Gruppen hatten sich zusammengeschlossen, um für eine bessere Version ihres Landes zu kämpfen, Idealismus und Hoffnung hatten sie jeden Tag auf Neue auf die Straße getrieben. Was bleibt aus dieser Zeit, fragen sich viele, die innerlich aufgegeben zu haben scheinen, die auf die Ereignisse von gestern inzwischen mit einem Schulterzucken reagieren.



Berichterstattung des britischen Reporters:
https://www.rt.com/news/323836-tahir-elci-protest-istanbul/

Video, in dem man die abprallenden Projektile sieht:
https://www.facebook.com/100008270389012/videos/1655721538046843/?pnref=story

Bericht der Süddeutschen Zeitung:
http://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-demo-fuer-getoeteten-kurdischen-anwalt-eskaliert-1.2759264

Verhaftung des Chefredakteurs der Cumhuriyet:
http://www.tagesschau.de/ausland/journalisten-103.html

Bericht des deutschen Journalisten zur Verhaftung seines Chefredakteurs und
Brief an Angela Merkel im Namen der türkischen Journalisten:
http://www.handelsblatt.com/politik/international/presse-in-der-tuerkei-verhaftete-journalisten-appellieren-an-merkel/12652194.html


Sonntag, 15. November 2015

Weltzentrismus - Überlegungen zu den Anschlägen in Paris

Nach einem Abend, der eigentlich ganz ruhig verlaufen sollte, dann aber doch mit mehreren Bieren in mehreren Bars geendet ist, sitze ich in den frühen Morgenstunden müde in einem Restaurant und esse Kebap, um einen schlimmeren Kater zu verhindern. Meine Augen bleiben am Fernseher des Imbisses kleben, der Bilder von Chaos zeigt, blaue Lichter leuchten auf, rotes Blinken, eiliges Rennen, dunkle Gestalten, weinende Menschen. Die Schlagzeile beschreibt in knappen Worten: Terror in Paris, 140 Tote. Mein Gehirn ist vom Alkohol deutlich verlangsamt, aber im ersten Moment muss ich wohl ungläubig reagiert haben, im zweiten gemerkt haben, wie abgestumpft meine Seele von all den Bildern und Geschichten der letzten Wochen und Tage, über Gewalt und Unglück, Schmerz und Ungerechtigkeit sein muss. Mehr als Kopfschütteln und ein repetitiv geflüstertes "Fuck, fuck." bringe ich nicht zustande, krame in meinem müden Kopf, ob ich jemanden kenne, der in Paris lebt, und erinnere mich wie ich beim Besuch meiner Freundin dort jonglieren gelernt habe, mit meinem ersten Freund romantische Fotos vor dem Eiffelturm geschossen und mit meiner Schwester jede Menge Croissant mit Nutella verspeist habe.
Die eigentliche Welle der Verzweiflung, Anteilnahme, Fassungslosigkeit erwischt mich und meinen nun aufgeklarten Kopf erst am nächsten Tag, und zwar aus dem Internet heraus, von Facebook direkt in mein verblüfftes Gesicht. Ich muss an das Attentat von Ankara vor ein paar Wochen denken, die darauffolgenden Tage erhielt ich von Facebook-Posts türkischer Freunde schnellere und umfassendere Informationen als von Nachrichtenseiten. Nach diesem unfassbaren Unglück in Frankreichs Hauptstadt lese ich nun Beiträge aus allen Ecken der Welt, die in meiner (zugegebenermaßen für heutige Standards recht "übersichtlichen") Freundesliste vertreten sind. Profilbilder leuchten in blau-weiß-rot, und ich bin erstaunt, über die Anteilnahme, ich sehe Merkel's Stellungnahme, ich lese #prayforparis. Ich bin gerührt, so viel Unterstützung zu sehen, sei es auch nur die virtuelle, von der ich etwas mitbekomme. Aber ich merke auch, wie meine Augenbrauen sich skeptisch verkräuseln, und ich bekomme meine Stirn nicht mehr glatt. Was ist der Unterschied zwischen diesem und anderen Anschlägen? Warum spuckt mir mein Laptop heute die französische Fahne entgegen wenn französische Menschen auf tragische Weise ermordet werden, nicht aber wenn Körper in einer anderen Region der Welt von Bomben zerfetzt werden? Ich wünschte, dies wäre eine rhetorische Frage und verlangte laut Definition keine Antwort, weil diese so offensichtlich wäre. Kluge Menschen haben bereits Erklärungsversuche verbalisiert, sodass ich das Gefühl habe, ich sollte eine nicht allzu große Portion meines eigenen Senfes dazu geben, zum Senf-Sumpf der Reaktionen.

Was ich aber aus meiner neuen Position, geographisch wie auch persönlich gesehen, gelernt habe, ist, wie sich Eurozentrismus von der anderen Seite anfühlt. Meine türkischen Bekannten und Freunde haben keine Beileidsbekundungen bekommen von Menschen, die sie nicht einmal kennen, vom anderen Ende der Welt, als an die hundert Menschen in die Luft gesprengt wurden, immerhin ist dieses Unglück in der Türkei passiert. Dies zeigt ziemlich genau wo die mental skizzierte Grenze von Europa, und von neoeuropäische Staaten verläuft, ab wo es ein Angriff auf "uns" ist ("wir sind Paris") und ab wo es ein Angriff auf "sie" ist (dort drüben, weit weg von uns, ist etwas passiert, was ich morgen aber wieder vergessen haben werde). Dabei war der Terror doch schon längst "bei uns" gelandet, in Form von den Menschen, die versuchen, vor ihm zu fliehen. Aber nun erst ist es für manch einen Weißeuropäer real und empörend genug geworden, um sich persönlich angesprochen zu fühlen. Denn nun hat der IS die Blase zerstört, in der man sich entscheiden kann, zu leben, wenn man mit einer bestimmten Hautfarbe geboren ist in einer bestimmten Gegend der Erde, in der eine bestimmte Religion vorherrschend ist, in einem Staat, der eine bestimmte (Kolonial-)Geschichte und eine bestimmte wirtschaftliche Position hat, mit bestimmten Privilegien gegenüber dem Großteil des Restes der Welt, derer man sich gar nicht bewusst ist. Es wurden schon Leichen an Stränden der europäischen Union angespült, aber nun wurde ein Ziel getroffen, dass kein "ferner" Strand ist, sondern eine Metropole mit kalten Wintern, Teil des Herzens der kleinen heilen Welt in der man wählen kann, ahnungslos und selektiv wahrnehmend (und anteilnehmend) zu leben.

Vor ein paar Tagen war ich an der Mittelmeerküste im Süden der Türkei, um einen Kurzurlaub zu machen, der Großstadt zu entkommen. Ich habe im Bikini am Strand gesessen und bin im tiefblauen Salzwasser geschwommen, und war weit weg von allem, wie es schien, obwohl nur einige Kilometer entfernt am Strand von Lesbos randvolle Boote mit Menschen, die sowohl den Syrienkrieg wie auch die folgende Flucht überlebt haben, im Minutentakt landen. Ich kann das Privileg der Nicht-Wahrnehmung wählen, weil mich die Schicksale dieser Menschen, die scheinbar so anders sind als ich, nicht betreffen. Ich kann wählen, weg zu schauen, und nach Paris meinen Ärger gegen den fremden Rest der Welt zu richten, meine Angst gegen Muslime zu richten. Aber glücklicherweise, (ironischerweise hätte ich fast "gottseidank" geschrieben, in diesem Fall natürlich aus reiner Gewohnheit, nicht aus Gottesgläubigkeit), glücklicherweise zählt zu meinen Privilegien, die ich nicht gewählt und für die ich nichts getan habe, aber derer ich mir bewusst sein muss, auch eine gute Schulbildung und eine stetige Ermutigung meines kindlichen und später jugendlichen Gehirns zum eigenständigen Denken.
Und so entscheide ich mich für die Gruppe der Menschen, die hinschauen, nicht erst jetzt, sondern jetzt erst recht. Als beste Reaktion auf den Terror sehe ich, mich den Menschen anzuschließen, die durchschaut haben, dass die Welt rund ist und "Westen" relativ ist, dass Schürung der Angst und "besorgtes Bürgertum" genau das ist, was diese Gehirnwäsche-Opfer wollen, und dass Solidarität und Menschlichkeit, besonders gegenüber Menschen, die anders und mir fremd sind, in diesen Zeiten das einzig sinnvolle, clevere und notwendige ist, im Namen von Gott, im Namen von Allah, oder auch einfach im Namen des gesunden Menschenverstandes. Und so begehe ich den heutigen Volkstrauertag in Gedenken an die Menschen, die in Paris ermordet wurden, an die Menschen, die vor einigen Wochen in Ankara sterben mussten, an die Menschen, die vor einigen Tagen in Beirut ihr Leben gelassen haben, an die Menschen, die in Syrien dem Krieg zum Opfer gefallen sind, und derer, die auf der Flucht vor diesem Krieg im tiefblauen Salzwasser des Mittelmeeres verendet sind.

Sonntag, 1. November 2015

Stimmung, Stimmen, Unstimmigkeiten - Wahltag in der Türkei

Letzte Woche führte mich mein Weg zur Uni wie immer durch eine laute, dreckige Straße, voll mit Autoreparaturshops, Lastenträgern und knatternden Mopeds. Auf dem Gehweg steht eine Mutter von ihren Kindern umringt, bevor ich die Situation richtig registriere, bekommt einer der kleinen Jungs eine gut sitzende Ohrfeige. Während ich mich im Vorbeigehen nach der Szene umdrehe, entfernt sich der Junge weinend einige Schritte von seiner Mutter und sie ruft in verärgertem Ton: „Recep,...“ und ein Schwall aus türkischen Wörtern folgt, den mein noch müdes Gehirn aber nicht zu verstehen versucht. Ich muss sofort an einen anderen Recep denken, der sich tatsächlich wie ein kleines Kind verhält, im Vergleich zum Jungen auf der Straße aber eine Zurechtweisung bitterer nötig hätte. Heute soll sich entscheiden, ob dies der Fall sein wird, heute ist dieser Tag, der über die Zukunft der Demokratie in diesem Land entscheiden soll.

Wie viel das, was hier heute durchgeführt wird, allerdings mit einer Demokratie, mit einer freien geheimen Wahl zu tun hat, ist die eigentliche Frage. Denn Umfragen zufolge hat die linksorientierte HDP, auf die meine Freunde und ich hoffen, sehr wohl Chancen, wieder Plätze im Parlament zu besetzen. Ob die Ergebnisse aber die reale Meinung der Wähler widerspiegeln wird, ist leider nicht sicher. Im Internet kursieren schon Bilder von Soldaten, die im Osten des Landes Bürger mit Maschinengewehren an der Wahl hindern, oder sie dazu zwingen, offen zu wählen. Diejenigen also, die sich der HDP verbunden fühlen und sich nach Drohungen und einem tatsächlichen Bombenangriff auf eine Friedensveranstaltung der Partei trotzdem zur Wahlurne getraut haben, wurden in ländlichen Teilen der Türkei stark bedrängt. Demokratie sieht in meinem Kopf anders aus. Tausende freiwilliger Wahlbeobachter sind heute im Einsatz, so auch ein Freund von mir im Norden von Istanbul. Einige von diesen Freiwilligen wurden schon festgenommen, der Grund ist unbekannt. Auch musste die HDP in den letzten Wochen alle ihre öffentlichen Veranstaltungen absagen, aus Angst vor weiteren Angriffen, und nicht zuletzt sind einige Kandidaten beim Bombenanschlag in Ankara ums Leben gekommen.

Um wie viel es für die Bürger geht, beschreiben Zeitungen besser als ich, man spürt sehr wohl die Spannung in der Luft dieses sonnigen Tages. Die Unis haben den nationalen Feiertag der Republiksgründung letzte Woche um einen Brückentag erweitert, die Uhren wurden nicht umgestellt, um die Bürger nicht zu verwirren, den ganzen Tag wird kein Alkohol verkauft, um alle bei klarem Verstand zu haben. Ich begleite meine Mitbewohnerin zu einer Schule, in der uns im Eingang ein übergroßes Atatürk Bild begrüßt. Hier herrscht ruhige Atmosphäre, von der Wahlkabine aus hat man einen Blick auf den welligen Bosporus. Ich höre wieder die Ströme rauschen und die Möwen kreischen, als wir uns auf den Rückweg machen, und muss an den kleinen Recep zurückdenken. An dem Tag hatten wir in der Uni im Hals-Nasen-Ohren-Kurs etwas über die Schallleitung ins Ohr gelernt, die Physiologie des Hörens wurde wiederholt. Ich hoffe, dass die Menschen die lauten Wahlparolen nicht nur gehört, sondern ihnen auch zugehört haben und bei der Entscheidung auf ihr Herz lauschen.



Sonntag, 25. Oktober 2015

Eindrücke//Einzelstücke - Szenen vom Wahlkampf

Die Polizei...

...mein Freund...

...und Helfer.



Simit und Demokratie zu verkaufen

"Du, Ich, gibt es nicht, nur die Türkei"



Unter Atatürk's wachenden Blick: "Zuerst Türkei"


Bunte Fahnen, bunte Werte.

Donnerstag, 22. Oktober 2015

POLITICS in Istanbul: Beziehungsprobleme - zu Merkel's Besuch in Istanbul

Ein herbstlicher Sonntag in Istanbul, das grau-weiß der Wolkendecke blendet in meinen Augen, der Geruch von Fisch streift meine Nase, als ich mit meiner Mitbewohnerin in Beşiktaş unter wehenden Türkeiflaggen warte, um eine Fähre zur asiatischen Seite der Stadt zu besteigen. Wenige hundert Meter von uns entfernt, wird zur gleichen Zeit im Dolmabahçe Palast unter Blitzlichtgewitter die deutsche Bundeskanzlerin empfangen, wahrscheinlich hat auch sie beim Spaziergang am Bosporus Ufer wie ich, mit zusammen gekniffenen Augen auf die mächtige Stadt geschaut. Ein deutscher Journalist, den ich im Sprachkurs kennengelernt habe, quält sich in diesen Minuten durch endlose Sicherheitskontrollen, um einen kleinen Blick auf das Schauspiel zu erhaschen. Ministerpräsident Davutoğlu hatte ein langes Gespräch mit ihr, heißt es, und ich stelle mir sein kindliches Gesicht vor, das mich jeden Tag von überdimensionalen Wahlplakaten herunter angrinst. Es soll ein Gespräch der Annäherung sein, in dem sich Deutschland an seinen, über einen jahrelangen Streit fast vergessenen Kameraden aus alten Zeiten wendet, um über bisherige Meinungsverschiedenheiten hinwegzusehen, im Namen der „Krise“, und neue Vereinbarungen zu treffen.

Der Krieg in Syrien treibt die Menschen in die Flucht, Menschen, die lieber in den salzigen Wellen des Mittelmeers ertrinken würden, als weiter in ihrer einstigen Heimat auszuharren und auf bessere Zeiten zu hoffen. Eltern sitzen in wackligen Booten mit ihren Kindern, die noch nicht einmal sprechen, geschweige denn schwimmen können, weil dies immer noch eine bessere Überlebenschance ist, als das Festland, als der frühere Boden unter ihren Füßen, der ihnen nun entrissen wurde.
Heimatlos zu werden, kann ich mir in meinen dunkelsten Träumen nicht vorstellen, da ich zu der privilegierten Minderheit der Welt gehöre, die im wirtschaftlich mächtigen, politisch stabilen Deutschland aufgewachsen ist. Wer sind wir also, diesen Menschen ihre Hoffnung auf ein besseres Leben zu versagen, ich habe nichts dafür getan, in meiner Heimat geboren zu werden, es war einfach Zufall. Merkel beweist Stärke in dieser Lage, indem sie ebendiese Meinung vertritt, und standhaft bleibt, was ihre Willkommenspolitik gegenüber den Geflüchteten angeht, auch unter Kritik aus ihren eigenen Reihen. Aber nun hat sie sich von der falschen Seite Unterstützung geholt.  

Die Türkei hat eine geographisch günstige Lage, um vermeintlichen Einfluss auf die Ströme der Migration zu nehmen, Merkel weiß das, Erdogan weiß das, es ist kein großes Geheimnis. Was irritiert ist, wie nun über Menschen in Todesangst verhandelt wird, Leistungen und Gegenleistungen abgewogen werden. Natürlich müssen auf politischer Ebene Weichen gestellt werden, um die große Zahl an Menschen angemessen zu versorgen. Aber welcher kühne Geistesblitz Merkel dazu gebracht hat, ausgerechnet jetzt die symbolische und faktische Freundschaft mit der Türkei in eine ernsthafte, feste Beziehung zu verwandeln, ist mir ein Rätsel. Erdogan spielt sich als großmütiger Retter in Merkels Krise auf, und sie lässt es zu wie eine naive Prinzessin. Wie in einer modernen Liebesgeschichte vergisst sie, wer sie ist, und wofür sie steht. Die EU als Wertegemeinschaft, als Verfechter der Menschenrechte, und meine Güte, Friedensnobelpreisträger reicht ausgerechnet dem Mann die Hand, der nicht nur im Wahlkampf als skrupelloser Dirigent die ihn kritisierenden Menschen durch Hintertüren verschwinden lässt, der unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terror seinen ganz eigenen Krieg führt, immer mehr auch gegen seine eigenen Bürger. Der neue Liebhaber Europas fordert Geld, Visaberechtigungen, eine Einladung zu zukünftigen EU Versammlungen und nicht zuletzt eine Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen. So hat Erdogan also wieder einen Fuß in der Tür, die zum vermeintlichen Wunderland Europa führt. Und wieder bestätigt sich, was sich wie ein roter Faden durch seine Handlungen zieht: der Eigennutz als Motto, der Machtausbau als erstes Item auf jeder seiner To-Do-Listen.
Denn würde es der türkischen Regierung um das Wohl seiner Bürger sowie um das der Flüchtlinge gehen, würden ebendiese Familien nach der Flucht in die Türkei sich nicht gegen die staatlichen Flüchtlingscamps entscheiden, um lieber ihre Kinder in den regnerischen Straßen Istanbuls Schirme verkaufen zu lassen, würde Erdogan die Bombardierung von IS Formationen nicht als Ablenkung benutzen, seinen Krieg gegen die Kurden fortzusetzen, um damit gegen diese Bevölkerungsgruppe zu hetzen, würden junge Türken nicht versuchen entweder auch für ein sicheres Leben nach Europa aufzubrechen oder gegen ihr Land in seinem derzeitigen Zustand zu protestieren.



Während Merkel nun also auf einem goldenen Stuhl neben dem Wachsfigur-ähnlichen Erdogan sitzen muss, sitze ich neben meiner Mitbewohnerin auf einer Holzbank auf der Fähre. Nach einem Frühstück in Üsküdar treffe ich mich mit einer anderen Freundin in Kadıköy, neue Hochburg der alternativen Szene. Am Hafenufer liegen Zigaretten und Muscheln, im Wasser blitzen die silbernen Schuppen von kleinen Fischschwärmen auf, die zwischen Quallen und Plastikmüll dahin schwimmen, die Fähre macht sich rauchend wieder auf den Weg auf die andere Seite und auch hier wehen türkische Flaggen im seichten Wind. Auf dem Platz vor der Fähranlegestelle ist der Wahlkampf voll entfacht, und zwischen all den absurden Wahlplakaten finden sich Perlen wie „Ich, Du, zählt nicht, was zählt ist die Türkei“. Mikrofon-verstärkte Stimmen brüllen Wahlversprechen umher, und mein Türkisch reicht nicht aus, um den Sinn hinter all dem zu finden, aber vielleicht liegt es auch nicht am Sprachverständnis. Ein Wort allerdings fällt mir gleich auf: -Barış- das türkische Wort für Frieden. Es kommt aus dem Mund einer kleinen Frau mit wilden Locken, die am HDP-Stand („Demokratische Partei der Völker“) ein Mikrofon ergriffen hat.