Istanbul//Berlin: Geschichten, Gesichter, Gedanken, Politik, Stimmen, Farben, Orte, Auseinandersetzen und Zusammensitzen, Traumata und Träume.

Istanbul//Berlin: stories, faces, thoughts, politics, voices, colors, places, examinations and integrations, trauma and 'Träume' (dreams).

Sonntag, 25. Oktober 2015

Eindrücke//Einzelstücke - Szenen vom Wahlkampf

Die Polizei...

...mein Freund...

...und Helfer.



Simit und Demokratie zu verkaufen

"Du, Ich, gibt es nicht, nur die Türkei"



Unter Atatürk's wachenden Blick: "Zuerst Türkei"


Bunte Fahnen, bunte Werte.

Donnerstag, 22. Oktober 2015

POLITICS in Istanbul: Beziehungsprobleme - zu Merkel's Besuch in Istanbul

Ein herbstlicher Sonntag in Istanbul, das grau-weiß der Wolkendecke blendet in meinen Augen, der Geruch von Fisch streift meine Nase, als ich mit meiner Mitbewohnerin in Beşiktaş unter wehenden Türkeiflaggen warte, um eine Fähre zur asiatischen Seite der Stadt zu besteigen. Wenige hundert Meter von uns entfernt, wird zur gleichen Zeit im Dolmabahçe Palast unter Blitzlichtgewitter die deutsche Bundeskanzlerin empfangen, wahrscheinlich hat auch sie beim Spaziergang am Bosporus Ufer wie ich, mit zusammen gekniffenen Augen auf die mächtige Stadt geschaut. Ein deutscher Journalist, den ich im Sprachkurs kennengelernt habe, quält sich in diesen Minuten durch endlose Sicherheitskontrollen, um einen kleinen Blick auf das Schauspiel zu erhaschen. Ministerpräsident Davutoğlu hatte ein langes Gespräch mit ihr, heißt es, und ich stelle mir sein kindliches Gesicht vor, das mich jeden Tag von überdimensionalen Wahlplakaten herunter angrinst. Es soll ein Gespräch der Annäherung sein, in dem sich Deutschland an seinen, über einen jahrelangen Streit fast vergessenen Kameraden aus alten Zeiten wendet, um über bisherige Meinungsverschiedenheiten hinwegzusehen, im Namen der „Krise“, und neue Vereinbarungen zu treffen.

Der Krieg in Syrien treibt die Menschen in die Flucht, Menschen, die lieber in den salzigen Wellen des Mittelmeers ertrinken würden, als weiter in ihrer einstigen Heimat auszuharren und auf bessere Zeiten zu hoffen. Eltern sitzen in wackligen Booten mit ihren Kindern, die noch nicht einmal sprechen, geschweige denn schwimmen können, weil dies immer noch eine bessere Überlebenschance ist, als das Festland, als der frühere Boden unter ihren Füßen, der ihnen nun entrissen wurde.
Heimatlos zu werden, kann ich mir in meinen dunkelsten Träumen nicht vorstellen, da ich zu der privilegierten Minderheit der Welt gehöre, die im wirtschaftlich mächtigen, politisch stabilen Deutschland aufgewachsen ist. Wer sind wir also, diesen Menschen ihre Hoffnung auf ein besseres Leben zu versagen, ich habe nichts dafür getan, in meiner Heimat geboren zu werden, es war einfach Zufall. Merkel beweist Stärke in dieser Lage, indem sie ebendiese Meinung vertritt, und standhaft bleibt, was ihre Willkommenspolitik gegenüber den Geflüchteten angeht, auch unter Kritik aus ihren eigenen Reihen. Aber nun hat sie sich von der falschen Seite Unterstützung geholt.  

Die Türkei hat eine geographisch günstige Lage, um vermeintlichen Einfluss auf die Ströme der Migration zu nehmen, Merkel weiß das, Erdogan weiß das, es ist kein großes Geheimnis. Was irritiert ist, wie nun über Menschen in Todesangst verhandelt wird, Leistungen und Gegenleistungen abgewogen werden. Natürlich müssen auf politischer Ebene Weichen gestellt werden, um die große Zahl an Menschen angemessen zu versorgen. Aber welcher kühne Geistesblitz Merkel dazu gebracht hat, ausgerechnet jetzt die symbolische und faktische Freundschaft mit der Türkei in eine ernsthafte, feste Beziehung zu verwandeln, ist mir ein Rätsel. Erdogan spielt sich als großmütiger Retter in Merkels Krise auf, und sie lässt es zu wie eine naive Prinzessin. Wie in einer modernen Liebesgeschichte vergisst sie, wer sie ist, und wofür sie steht. Die EU als Wertegemeinschaft, als Verfechter der Menschenrechte, und meine Güte, Friedensnobelpreisträger reicht ausgerechnet dem Mann die Hand, der nicht nur im Wahlkampf als skrupelloser Dirigent die ihn kritisierenden Menschen durch Hintertüren verschwinden lässt, der unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terror seinen ganz eigenen Krieg führt, immer mehr auch gegen seine eigenen Bürger. Der neue Liebhaber Europas fordert Geld, Visaberechtigungen, eine Einladung zu zukünftigen EU Versammlungen und nicht zuletzt eine Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen. So hat Erdogan also wieder einen Fuß in der Tür, die zum vermeintlichen Wunderland Europa führt. Und wieder bestätigt sich, was sich wie ein roter Faden durch seine Handlungen zieht: der Eigennutz als Motto, der Machtausbau als erstes Item auf jeder seiner To-Do-Listen.
Denn würde es der türkischen Regierung um das Wohl seiner Bürger sowie um das der Flüchtlinge gehen, würden ebendiese Familien nach der Flucht in die Türkei sich nicht gegen die staatlichen Flüchtlingscamps entscheiden, um lieber ihre Kinder in den regnerischen Straßen Istanbuls Schirme verkaufen zu lassen, würde Erdogan die Bombardierung von IS Formationen nicht als Ablenkung benutzen, seinen Krieg gegen die Kurden fortzusetzen, um damit gegen diese Bevölkerungsgruppe zu hetzen, würden junge Türken nicht versuchen entweder auch für ein sicheres Leben nach Europa aufzubrechen oder gegen ihr Land in seinem derzeitigen Zustand zu protestieren.



Während Merkel nun also auf einem goldenen Stuhl neben dem Wachsfigur-ähnlichen Erdogan sitzen muss, sitze ich neben meiner Mitbewohnerin auf einer Holzbank auf der Fähre. Nach einem Frühstück in Üsküdar treffe ich mich mit einer anderen Freundin in Kadıköy, neue Hochburg der alternativen Szene. Am Hafenufer liegen Zigaretten und Muscheln, im Wasser blitzen die silbernen Schuppen von kleinen Fischschwärmen auf, die zwischen Quallen und Plastikmüll dahin schwimmen, die Fähre macht sich rauchend wieder auf den Weg auf die andere Seite und auch hier wehen türkische Flaggen im seichten Wind. Auf dem Platz vor der Fähranlegestelle ist der Wahlkampf voll entfacht, und zwischen all den absurden Wahlplakaten finden sich Perlen wie „Ich, Du, zählt nicht, was zählt ist die Türkei“. Mikrofon-verstärkte Stimmen brüllen Wahlversprechen umher, und mein Türkisch reicht nicht aus, um den Sinn hinter all dem zu finden, aber vielleicht liegt es auch nicht am Sprachverständnis. Ein Wort allerdings fällt mir gleich auf: -Barış- das türkische Wort für Frieden. Es kommt aus dem Mund einer kleinen Frau mit wilden Locken, die am HDP-Stand („Demokratische Partei der Völker“) ein Mikrofon ergriffen hat.


Freitag, 16. Oktober 2015

Die rote Fahne - Der Anschlag von Ankara



Blut läuft die Straßenrinne entlang, gemischt mit Regen, die hügelige Dorfstraße hinunter, vor meine Turnschuhe. Die wichtigsten religiösen Feiertage der Türkei haben begonnen, das Opferfest, Kurban Bayramı. Die Straßen der Stadt Pergamon sind leer, die Menschen versammeln sich in Gärten und Hinterhöfen, um Schafe oder, abhängig von Wohlhaben, größere Tiere zu schlachten, an der Ecke werden Messer verkauft. Über der Stadt ragt die Akropolis, die an griechische Zeiten erinnert, und ich esse Köfte in einem Neon-beleuchteten Restaurant. Hier scheint der Lärm meiner neuen Heimat, Istanbul, weit entfernt, ein Mann der in seinem Hauseingang ein von der Decke hängendes Schaf häutet, mustert mich interessiert und ein Lächeln bewegt die ledrigen Falten um seine Augen.


Einige Tage später bin ich zurück in der Realität der Metropole, und es regnet, Wasser läuft die Straßenrinnen hinunter, und etwas fehlt. Die Wahlparolen, die in den letzten Tagen von den Dächern der mit Politikerfotos tapezierten Kleinbusse in die herumeilenden Menschenmassen geschleudert wurden, sind verstummt. Verordnete Staatstrauer, der Wahlkampf ist somit für einige Tage ausgesetzt.


Vergossenes Blut ist der Anlass, das klebrige getrocknete Blut von menschlichen Wesen, welches, wegen das Diesseits überschreitender Überzeugungen von bisher unbekannten, anderen Menschenwesen, den Betonboden von Ankara benetzt.



Nicht das erste Mal, nicht die ersten Leben von Zivilisten, die beendet wurden, in diesem Land, das sie trotz allem Heimat nennen. Aber das erste Mal in solch einem absurden und unbegreiflichen Szenario, welches die Menschenwürde in unheimliche Ferne rücken lässt. Viele Menschen hatten sich am Samstag, den 10. Oktober 2015 in Ankara versammelt, um ihre Stimme zu erheben für das, woran sie glauben; an das gewaltfreie Zusammenleben verschiedener Menschengruppen, seien ihre Geschichten auch noch so unterschiedlich, an Gerechtigkeit auf zwischenmenschlicher und politischer Ebene, und an die Intelligenz der Liebe und Menschlichkeit, die mächtiger ist als jene verachtender Waffen und unterdrückender Regimeführung.


Sie kamen, weil sie an den Frieden glaubten, und daran, dass er der kleinste gemeinsame Nenner für Türken und Kurden sein kann. Sie kamen, um sich zusammenzuschließen im Kampf gegen die verzerrte Politik, die hier geführt wird. Eine Politik, in der ein Rütteln am Thron des kleinen Recep jeden Tag fatale Folgen nach sich zieht. In der erstmals eine liberal auftretende, der kurdischen und anderen Minderheiten verbundene Partei eine politische Stimme erlangt hat, nur um in den folgenden Wochen und Monaten als unglaubwürdig dargestellt zu werden, mit Terroristen in einem Atemzug genannt zu werden, attackiert und boykottiert zu werden, vom machthabenden Pokerer und seinen Gefolgsleuten höchstpersönlich. Das Volk wird gegeneinander aufgehetzt und die Regierung versucht, mithilfe der von ihnen kontrollierten Medien, die Grenzen zu verwischen zwischen der als terroristisch klassifizierten Gruppe PKK, die ebenfalls der kurdischen Ethnie angehört und der demokratisch gewählten Partei HDP, die sich für einen Platz kurdischer Menschen in der türkischen Gesellschaft und ein friedliches Zusammenleben einsetzen. Die wahren Terroristen sind die Anhänger der gefürchteten Gruppe „Islamischer Staat“, die ihrerseits keine Unterscheidung vornehmen bei Angriffen auf die heterogene Gruppe kurdisch-stämmiger Menschen die in der Osttürkei, Nordirak, Nordsyrien und anderen Ländern leben. Viele vermuten sie hinter dem Bombenanschlag vom Samstag, ob es je zu einer Aufklärung kommen wird, ist fraglich.

Der tägliche Bullshit


Verstörend ist die Rolle der Polizei und somit der Befolger der Befehlshabe in dem herzlosen Massaker, das über einhundert Menschen die für den Frieden kamen, mit ihrem Leben bezahlen ließ. Unter den Toten befinden sich neben den zwei Selbstmordattentätern Studenten, Aktivisten, Politiker der HDP, selbst Kandidaten für die kommende Wahl, friedliche Demonstranten, und, wie sich gezeigt hat, keine Polizisten. Keine Sicherheitskräfte. Null. Wie kann es sein, dass eine angemeldete, genehmigte Kundgebung und Demonstration zum exakten Zeitpunkt des Angriffs keinerlei Polizeipräsenz hatte? Weit entfernt kann diese nicht gewesen sein, denn wie Überlebende berichten, wurde die auf die Explosion folgende Massenpanik von Uniformierten Horden mit Wasserwerfern und Tränengas beantwortet. Absurdität reicht nicht aus, um dies zu beschreiben; wer von der Explosion nicht direkt gestorben war, lag also auf dem Boden zwischen verstreuten Körperteilen, schreiende Menschen um sie herum, die über abgetrennte Arme stolpern, Leichen neben ihnen, deren Gesichter nicht mehr erkennbar sind und in ihren Augen Tränengas. Krankenwagen konnten erst eine halbe Stunde später auf das Gelände gelangen.
Die Ironie der Situation ist schmerzlich, Friedensfahnen, die tote Körper von fast hundert Menschen verhüllen und schmutzig rot gefärbt die Schande zu bedecken versuchen. Die Bomben haben ihre Körper zerfetzt. Ihre menschliche Hülle wurde desintegriert, so wie Erdoğan seit Monaten versucht, sie von der türkischen Gesellschaft zu desintegrieren. In folgenden Stellungnahmen der Regierung wird angemerkt, es wäre möglich, die HDP habe das Attentat selbst inszeniert, um Sympathie für die Wahl zu sammeln.

Am 1. November 2015 soll die Wahl stattfinden, das türkische Volk soll entscheiden, welche Parteien sich an der Regierung beteiligen sollen. HDP-Anhängern wurde am Samstag eine eindeutige Nachricht überbracht: seid ihr gegen die Regierung, so seid euch eures Lebens nicht sicher. Die gleiche Nachricht erfuhren vor einigen Wochen regierungskritische Tageszeitungen, deren Hauptquartiere in nächtlichen Aktionen angegriffen wurden, unter der agitierten Menge auch ein Abgeordneter der Regierungspartei. Trotz all diesen Umständen, und toter HDP Wahlkandidaten, wird am Wahldatum festgehalten, unter dem Deckmantel der Demokratie soll sich die Zukunft des Landes entscheiden.

Während  meine türkischen Freunde verstört, entsetzt, wütend, ohnmächtig durch ihren Alltag trotten, in Gedanken bei ihren Bekannten und Freundesfreunden, die gestorben sind, erhalte ich Emails meiner deutschen Universität, ich möge doch bitte vorsichtig sein und in nächster Zeit nicht die U-bahn benutzen.

Am Sonntag wird die mächtigste Frau der Welt dem kleinen Recep einen Besuch abstatten. Wird sie ihn darauf hinweisen, dass er sich wie ein gekränktes Kind verhält, das andere Kinder verprügeln lässt, um die Kontrolle über seinen Spielplatz Türkei zu behalten? Wird sie ärgerlich anmahnen, dass die Tyrannerei der ISIS-Gang überlebende Familien in ihre überforderte europäische Nachbarschaft treibt und er dies nicht für sein Spielchen ausnützen sollte? Und wird sie mit Sorgenfalten auf ihrer Kanzlerstirn sagen, dass sein Mobbing gegen Andersdenkende sie an frühere Zeiten ihrer eigenen Landesgeschichte erinnert? Vermutlich nicht. Denn sein Spielplatz hat eine wichtige geographische Lage, und vielversprechende Spielgeräte.
Klartext, so wie Demirtaş ihn gesprochen hat, wird nicht über ihre diplomatischen Lippen quellen. Zu überwältigend die derzeitige Lage der Welle von Geflüchteten in Deutschland, dass sie zunächst übersehen wird, dass der Mann, den sie zur Zusammenarbeit bittet, diese nur zu seinem eigenen Vorteil nutzen möchte, und am Friedensprozess und Menschlichkeit so wenig Interesse hat wie am Geheimnis ihres Haarpflegeproduktes.