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Freitag, 20. Mai 2016

POLITICS in Istanbul: Aufbruch zum Autoritären

Erdogan beginnt, seine bereits unübersehbaren de-facto-Machtstrukturen auf Verfassungsebene zu legitimieren.

Eine umstrittene Verfassungsänderung in der Türkei: sie überrascht kaum jemanden, und wirft doch Fragen auf. Eine Mehrheit des Parlamentes hat heute dafür gestimmt, die Immunität von Abgeordneten gegenüber strafrechtlicher Verfolgung aufzuheben. Dies bedeutet, Parlamentsmitglieder, die eine Straftat vor oder nach der Wahl begangen haben sollen, dürfen nun festgenommen, verhört, verhaftet oder vor Gericht gestellt werden. Doch dies soll nur für einen bestimmten Anteil des Parlaments gelten, nämlich für jene Abgeordneten, die als regierungskritisch gelten.
Erdogans Plan des Machtausbaus in dieser Form war seit längerem bekannt, und doch blieb bis heute die Hoffnung bestehen, dieser nächste bedeutende Schritt zur Autokratie in der Türkei würde nicht stattfinden können. Von nun an scheint das türkische Parlament eine Gruppe von Interessensvertretern zu sein, in der aber nur jene mit bestimmten Interessen eine faire Behandlung erfahren, jene aber, die mit ihrer Meinung von der des Regenten Erdogans abweichen, nun nicht nur de-facto sondern ab heute auch verfassungskonform benachteiligt werden dürfen.

Bisher wurden Vertreter der prokurdischen Partei, Andersdenkende, kritische Journalisten, Menschenrechtsanwälte, Friedensbefürworter, Minderheiten-Sympathisanten, links eingestellte Studenten, Liberalitäts-lieber, türkische Menschen, die von einem anderen Weg für ihr Land träumen, mit erschreckender Selbstverständlichkeit und Selbstgefälligkeit vom Staat als unglaubwürdig dargestellt und mundtot gemacht, der Regierungskritik und Terrorvorwürfen wegen inhaftiert, wurden von der Bildfläche der öffentlichen Politik-bühne gedrängt und verschwanden. Dass nun aber auch Mitglieder des Parlamentes diesem fragwürdigen Agieren des Justizsystems zum Opfer fallen können, ist ein neuer Tiefpunkt in der Scheindemokratie, in der schon lange nicht mehr gleiche Rechte für alle gelten.

Ironisch ist, wie Befürworter einer friedlichen Handhabung des Kurdenkonfliktes und Menschen, die sich beispielsweise im Namen der HDP für Frieden einsetzen, als Regierungskritiker mit Nähe zu Terrororganisationen beschimpft werden, von keinem geringeren als des türkischen Präsidenten persönlich. Menschen, die Frieden wollen, sind also nach Erdogan’scher Logik Terroristen. Diese absurde Taktik der Tatsachenverdrehung scheint aber dank Propaganda und Infiltration der Medien, der Justiz und des Geheimdienstes zu funktionieren. Obwohl die Wahl im November nachweislich von Wahlbetrug begleitet war, kann dies allein nicht den haushohen Gewinn der AKP erklären. Viele Bürger scheinen die Methoden des Autokraten, der inzwischen eine Art Kultstatus erlangt hat, nicht kritisch zu hinterfragen.

Die deutsche Bundesregierung reagiert mit einer „grundsätzlichen Sorge“, Merkel wird am Montag zu einem Gespräch nach Istanbul kommen. Die offensichtliche Passivität, mit der die deutsche Regierung Zwielichtigkeitsverhalten, Menschrechtsverletzungen und brutalen Machtausbaus Erdogans und seiner Regierung seit Monaten zuschaut, muss wohl vom Abhängigkeitsverhältnis in der Flüchtlingsfrage begründet sein, anders kann ich es mir nicht erklären. Es klingt, als sehe man eigentlich die Warnlichter rot aufblitzen, könne dies im Moment aber noch als Special-Effect einer fremdartigen Disco abtun. So als höre man durch die Wand die Nachbarn ihre Kinder schlagen, aber man redet sich ein, es sei nur wildes Toben der Kleinen, und man möchte den Nachbarn nicht auf seine verurteilungswürdige Verhaltensweise hinweisen, aus Angst, als Resultat dürfte man nicht mehr kostenlos sein Wi-Fi benutzen.

Wo Sultan Erdogan bisher die Verfassung seines Landes schlichtweg missachtet oder nicht anerkannt hat, hat er nun einen einfacheren, besseren Weg gefunden: er hat die Verfassung nun einfach zu seinen Gunsten geändert. Dieser Schritt ist ein Rückschritt, für eine moderne, demokratische, friedliche Türkei, die in weitere Ferne zu rücken scheint.


http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-05/tuerkisches-parlament-beschliesst-aufhebung-der-immunitaet

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-11/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-failed-state



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