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Mittwoch, 13. Januar 2016

Anschläge, Attentate, Alltag - zum Bombenanschlag in Istanbul

Nach einer Geburtstagsparty, auf der ich stolz herausfinden konnte, wie ein bisschen Bier meine Fähigkeit zum Türkisch-Sprechen erheblich verbessert, wollte ich gestern nicht so recht auf den sanften Weck-Ton meines Telefons hören. Diese Woche führt mir bisher mein Scheitern an der selbstständigen Zeiteinteilung vor Augen, denn Vorlesungen muss ich diese Woche in meiner türkischen Uni nicht besuchen, muss nicht jeden Morgen den langen Weg auf die historische Halbinsel, in die Moscheen-gesäumte Altstadt der Makro- äh, Metropole antreten, sondern kann die freie Zeit für ausgiebige Prüfungsvorbereitung nutzen - eigentlich. Gestern wachte ich also wenn auch nicht früh, dafür halbwegs motiviert auf, um endlich meine Phase der Produktivität zu starten. Wie es eine leidige Angewohnheit meiner Informations-Gesellschafts-Generation ist, öffne ich als erste Aktion des Tages den Laptop. Es ist 10:50 Uhr, und eine Nachricht von einem Freund, der als Journalist arbeitet, informiert mich sogleich, dass eine halbe Stunde zuvor eine Explosion den zehn Kilometer entfernten touristischen Stadtteil Fatih erschüttert hat. Noch müde versuche ich, diese Information zu verarbeiten und stelle etwas irritiert fest: überrascht, geschockt, sprachlos bin ich nicht. Ich erinnere mich an die Worte meiner Mitbewohnerin, die vor ein paar Wochen nach Ausschreitungen der Polizei gegen Zivilisten schulterzuckend meinte, es wäre zu erwarten gewesen. Geschockt war ich zu der Zeit noch über die Gelassenheit, mit der schlechte Nachrichten von meinen türkischen Freunden aufgenommen werden, nun scheine ich selbst eine Art Abgestumpftheit entwickelt zu haben.

Noch bevor ich dazu komme, meinem Körper Frühstück zu gönnen, bleibe ich am Bildschirm kleben, durchforste die spärlichen Berichte, die sich so kurz nach dem Ereignis überhaupt finden lassen, habe aber dank Reporter-Freund eine Art persönlichen und vertrauenswürdigen News-Stream. Ich denke als erstes nicht daran, dass ich dort hätte sein können, stattdessen denke ich an meine Familie. Ohnehin sind sie angespannt, das Küken der Familie in einer Großstadt, in einem Land, dass an ein Kriegsgebiet grenzt, zu wissen. Also schicke ich die kurze Botschaft „Mir geht’s gut!“ nach Deutschland. Vergessen hatte ich jedoch, dass in meiner Familie alle Generationen über der meinen nicht in der Welt der ständigen Information und Aktualisierung leben, und so bekam ich liebreizende Antworten im Format „Wie schön, möge es noch lang anhalten! Mir geht es heute auch gut.“ zurück.

Der Grund für die karge Berichtslage ist eine Nachrichtensperre, die kurz auf den Anschlag folgend verhängt wurde, auch das ist etwas, das mich nicht überrascht, hat die Presse doch seit Wochen wortwörtlich nichts mehr zu melden in diesem Land. Stattdessen eine Erklärung der Regierung höchstpersönlich, die bereits nach wenigen Stunden den Täter identifiziert zu haben scheint. Mein Aufenthalt hier hat mich leider gelehrt, der türkischen Regierung keinen Glauben zu schenken, zu oft werden Tatsachen verdreht, das eigene Volk betrogen und misshandelt, Andersdenkende als direkte Bedrohung empfunden und inhaftiert oder anderweitig aus dem Weg geschafft. Noch kurz zuvor hatte der werte Präsident in einer Rede gegen eine Petition gewettert, in der Intellektuelle ihn auffordern, den Krieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes zu beenden. Seit Wochen kursieren Bilder von verhungernden Menschen in jenem Teil der Türkei, Gebiete, die vom Militär seit Wochen von der Außenwelt, von medizinischer Versorgung, von Nahrungsmitteln abgeschnitten sind, einige Menschenrechtsorganisationen warnen vor drohendem Kannibalismus. Das dies kritisiert wird, von Unterzeichnern wie Noam Chomsky, wird von Erdoğan augenscheinlich als persönliche Beleidigung empfunden, er droht mit Haftstrafen gegen lokale Unterzeichner und lädt internationale Unterzeichner ein, sich selbst davon zu überzeugen, die Verletzungen von Menschenrechten, die im Südosten des Landes geschehen, seien die Taten von Terroristen, nicht die des Staates. Um dies als absurde Äußerung zu entlarven, reicht es, unabhängige Medien zu verfolgen, Berichte internationaler Beobachter zu lesen, oder aber, ohne sich in ein Gebiet des Bürgerkrieges zu begeben reicht es aus, wie ich in Istanbul zu leben, um Menschenrechtsverletzungen der Regierung und Polizei an eigenen Bürgern zu bezeugen (siehe hierzu z.B. meinen Artikel „Wütende Augen weinen – mein erster Tränengasrausch“). 

Diese Verdrehungen von Tatsachen, Ungerechtigkeiten gegen Zivilisten beschäftigen mich seit meiner Ankunft hier vor vier Monaten, und haben mich dazu bewegt, mit dem Aufschreiben, mit dem Informieren von deutschen Freunden zu beginnen. Bisher schienen außer einer Handvoll guter Bekannter aber nicht viele Zeit gehabt zu haben, zuzuhören, in deutschen Medien suchte ich bisher vergeblich nach ausführlichen Recherchen und Kommentaren, zum Beispiel nach dem schrecklichen Attentat von Ankara, bei dem über 100 Menschen zerfetzt wurden. Nun aber die erschütternde Nachricht: unter den Opfern befinden sich Deutsche. Dass Menschen sterben als Opfer des Terrors ist unvorstellbar schrecklich, doch auch dieser Anschlag ist für mich einer von vielen, die in den letzten Wochen, Monaten, Jahren unsere Welt erschüttern. Mein Abenteuer Auslandsaufenthalt in der Türkei hat mich gelehrt, wie sich eine Hierarchisierung von Toten nach Attentaten für meine türkischen Freunde anfühlt. Schon nach den Ereignissen von Paris war mir dies aufgefallen („Weltzentrismus – Überlegungen zu den Anschlägen in Paris“). Nicht erst seit gestern empfinde ich Terrorismus als nahe, als reale Bedrohung, doch nun da Deutsche erstmals in größerem Ausmaß ‚persönlich’ betroffen sind, erlangt das Thema im Zusammenhang mit der Türkei eine neue Welle an Aufmerksamkeit in den Medien. Dies ist zutiefst menschlich, auch ich würde die türkische Politik nicht so aufmerksam verfolgen, wie ich es derzeit tue, wäre dieses Land nicht meine vorläufige Heimat. Umso mehr hoffe ich, Berichte, wie ich sie gestern in der ARD Sendung „Brennpunkt“ gesehen habe, werden nun häufiger und das Geschehen hier damit realer für Deutschland, welches sich jüngst die Türkei als Partner in der Syrien-Krise angelacht hat. Es wurde nämlich in der Sendung darauf hingewiesen, dass die türkische Regierung, die sich nach außen als großer Bekämpfer des Terrorismus aufspielt, nebenbei noch einen ganz anderen Krieg, nämlich gegen die eigene kurdisch-stämmige Bevölkerung führt. Die Menschen hier werden nicht von ihrer eigenen Regierung geschützt, und vielleicht ist mit diesem traurigen Anschlag ein Aufrütteln geschehen, vielleicht wird man die bisher übermäßig freundliche Position gegenüber der Türkei, vor dem Hintergrund, in Fragen von Migrationspolitik auf sie angewiesen zu sein, überdenken müssen. Die Türkei spielt eine komplexe Rolle im wirren Konflikt um Syrien und Terror, und hat sich in letzter Zeit viele Feinde gemacht.

Den gestrigen Tag habe ich also damit verbracht, SMS und Nachrichten von besorgten Freunden zu beantworten, und ich wurde gebeten, vorsichtig zu sein. Was damit gemeint ist, ich bin mir nicht sicher, wie befolge ich die Bitte „Pass auf dich auf!“?  Das Auswärtige Amt riet, sich von größeren Menschenansammlungen fernzuhalten, was mein überfordertes Gehirn überlegen ließ, sind 10 Menschen, die auf den Bus warten, eine Menschenansammlung, 50 Menschen, die in einem Restaurant speisen, 100 Menschen, die in einem Hörsaal sitzen? Eher aus Gebanntheit und Faulheit als aus Terrorangst bin ich dann einfach zu Hause geblieben, vor dem Laptop, vor dem Smartphone, und habe mich doch den Ereignissen näher gefühlt, als gedacht. Gegen Abend hat meine Mutter dann wohl den Fernseher in einer Kleinstadt in Brandenburg angeschaltet und realisiert, was es mit meiner Nachricht vom Vormittag auf sich gehabt hatte. Ein ihrerseits bestürztes Telefonat folgte, ich erklärte ich könnte nur kurz reden, weil ich gerade im Türkisch Kurs sitze, woraufhin sie fragte, ob ich denn dort bleiben wolle. Ich war kurz verwirrt, natürlich möchte ich im Türkisch Kurs bleiben, ich möchte mich doch besser verständigen können! Dass sie damit meinte, ich solle nach Berlin zurückkehren, wie ihre Freunde es ihr nahegelegt haben, überraschte mich zunächst, da ich mich schon in anderen Situationen hier bedrohter gefühlt habe, andere Ereignisse von größerem Ausmaß mich eher ins Grübeln gebracht hatten (siehe "Die rote Fahne - der Anschlag von Ankara"). Damit möchte ich nicht relativieren, was geschehen ist, vermutlich ist die mentale Banalisierung der Geschehnisse nicht zuletzt ein Abwehrmechanismus meines Gehirns, um mich nicht in Panik verfallen zu lassen. Meine Mutter hat dann aber auch festgestellt, dass sie leider nicht ausschließen kann, dass das Gleiche in Berlin hätte passieren können. Immerhin ist Deutschland vor ein paar Wochen überstürzt in den Krieg eingetreten, hat sich somit seinerseits neue Feinde gemacht.

Auch Deutschland liefert Waffen in ein Kriegsgebiet, die in falsche Hände geraten können. Ich bin keine Expertin von Terror, von Krieg, von Politik, herrje, nicht einmal Expertin von dem, was ich studiere. Aber ich beobachte mit deutscher Prägung tief in meinem Wesen verankert, was hier geschieht, und hoffe, dass nun, da es um deutsche Opfer geht, besser spät als nie genau hingeschaut wird, präzise ermittelt wird, und die Rolle der Türkei in der sogenannten ‚Fluchtursachenbekämpfung’ und im Kampf gegen den Terror hinterfragt wird. Denn der Terror der von der Regierung gegen die eigene Bevölkerung verübt wird, und öffentlich wiederum vehement negiert wird, will nicht so recht in das Bild passen, in das Bild des neuen Freundes Türkei, mit dem Deutschland versucht, die Terror-Krise in und um Syrien einzudämmen.

Ich bin zutiefst bestürzt über die Ereignisse von gestern, gleichzeitig wohlauf, aus Glück. Nicht zuletzt hatte ich bis hierhin soviel ‚Glück’ von menschenverachtenden Geschehnissen verschont zu bleiben, weil ich in einem der reichsten und stabilsten Länder der Welt aufgewachsen bin, in welchem ich, soviel es auch zu kritisieren gibt, noch nie derartige Menschenrechtsverletzungen von Regierungsebene aus beobachten musste, wie ich es hier tue. Ich habe mich in ein neues Umfeld begeben, um neue Realitäten kennen zu lernen, unter Anderem muss ich hier realisieren, wie unterschiedlich mein Leben als Westeuropäerin im Vergleich zu klügeren, innovativeren, kreativeren jungen Menschen verläuft, die aber in der Türkei geboren sind, schon einige Freunde durch Bombenanschläge verloren haben und schon unzählige heftige Situationen in ihrem Leben durchstehen mussten. Darum hoffe ich, dass der grausame Tod der Deutschen auf türkischem Boden auch dazu führen kann, die grausamen Tode zu beleuchten, die türkische Staatsbürger jeden Tag auf dem selben türkischen Boden sterben.



 http://www.ardmediathek.de/tv/Brennpunkt/Deutsche-Terroropfer-in-der-Türkei/Das-Erste/Video?documentId=32735194&bcastId=1082266

http://www.ardmediathek.de/tv/Tagesthemen/tagesthemen/Das-Erste/Video?documentId=32738078&bcastId=3914

http://www.handelsblatt.com/politik/international/explosion-in-istanbul-wann-sorgt-erdogan-fuer-frieden/12819802.html


http://www.hurriyetdailynews.com/erdogan-slams-academics-over-petition-invites-chomsky-to-turkey.aspx?pageID=238&nID=93760&NewsCatID=338

http://www.welt.de/politik/ausland/article150963410/Warum-die-schnelle-Taeter-Identifizierung-seltsam-ist.html

2 Kommentare:

  1. Ja!! Sehr sehr ähnliche Erfahrungen, Empfindungen, Beobachtungen und Resignation.

    "Die Menschen hier werden nicht von ihrer eigenen Regierung geschützt, und vielleicht ist mit diesem traurigen Anschlag ein Aufrütteln geschehen.."

    Und doch schafft Erdogan es sich als einziges Werkzeug für die Sicherheit darzustellen und als großen Beschützer.
    Wiederholt in einem die eigene Bevölkerung quasi anklagenden Tonfall schien das Statement zu sein, mit mehr Unterstützung und Macht seiner Person sei das Volk sicher und all das wäre nie passiert.

    Vor der 2. Wahl ein "Tja wenn ihr mich nicht an die Macht lasst, dann wird es ja auch keine Sicherheit geben. Schaut mal, in Ankara.. Jaja das war die PKK. Sowas passiert hier wenn ich Euch nicht beschütze"

    Ich bin in den Wochen um die Wahlen herum ein wenig durch die Türkei getrampt - ein bisschen Land, ohne Großstadt, mit anderer Medienpräsenz, anderer politischer Bedeutung - und konnte mit naiver, unwissender Ausländer-Erscheinung fragen "Was haben Sie denn gewählt, was werden Sie diesmal wählen?" - "AK Parti" - "Ah und warum?" - "Damit die AKP genug Stimmen bekommt, sonst kann sie ja nicht regieren" - Als gäbe es keine Alternative. Und es muss ja eine Regierung geben.

    Erdogan schafft es aber auch nach solchen Ereignissen wie Vorgestern durch aussagen wie “Pick a side. You are either on the side of the Turkish government, or you’re on the side of the terrorists." einen Standpunkt zu kreieren der uns zeigt, dass all seine Gegner den Terror fördern.
    Wieder ein unterschwelliger Vorwurf an das eigene Volk 'Ihr steht nicht alle geschlossen hinter mir, ihr habt mir nicht genug Macht gegeben, jetzt seht ihr was dann passiert."

    Ein weiterer Anschlag, unmittelbare Konsequenzen - mehr Polizeipräsenz, Überwachung, Eingriffe in die Freiheit derer die sich in der Türkei aufhalten.

    Und so scheint er sich Sprosse für Sprosse eine Leiter diktatorischer Kontrolle hoch zu schleichen. Eine Leiter, die Meinungen Verbannt, dem Terror allerdings seinen Spielraum lässt.

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  2. Danke für den Kommentar! Ja, genauso scheint es leider zu sein, Erdogan arbeitet auf den Machtausbau hin und Europa scheint das im Moment nicht sehr zu interessieren. Ich bin gespannt, wie die angekündigte Verfassungsänderung aussehen wird, und frage mich, ob das zu mehr Resignation führen wird, oder vielleicht ja sogar zu erneuten Protesten. Wir werden sehen, was der Sommer bringt.
    Sabina

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