Istanbul//Berlin: Geschichten, Gesichter, Gedanken, Politik, Stimmen, Farben, Orte, Auseinandersetzen und Zusammensitzen, Traumata und Träume.

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Sonntag, 29. November 2015

POLITICS in Istanbul: Allgemeine Alltags-Absurdität

Gestern bin ich durch meine vorübergehende Heimat geschlendert, vorbeigehend an Szenen, die für mich nach drei Monaten Normalität geworden sind, vorläufig adaptiert an die neue Realität, die mich umgibt. Mit einem Gast aus Deutschland, die dies alles zum ersten Mal sieht, und mich an meine vorherige Ankunft genau hier, am Taksimplatz erinnert.
Der Platz wimmelt von Stadtbewohnern, Tauben, Bauzäunen, Touristen, einigen Aktivisten und, natürlich, düster drein blickenden Polizisten. Die Istiklal Straße ist wie zu fast jeder Tages- und Jahreszeit bis an ihre Betonfassaden gefüllt mit Menschen, durch die wir uns schlängeln, um die Schönheiten der Stadt, den Galataturm, die Brücke übers Goldene Horn mit ihren Anglern, die abendlich beleuchteten Moscheen von Fatih und die überwältigende Vielfalt des Gewürzbasars zu bestaunen. Nach einem langen Tag mit Iskender und Efes, Çay und Ayran, erreichen mich abends die Bilder der Ausschreitungen auf ebendieser Route, inmitten der Istiklal Straße, wie Demonstranten augenreibend flüchten, Wasserwerfer der Polizei Menschenmassen auseinander reißen, wie gepanzerte und Gasmasken-bestückte Ordnungshüter gestikulieren und das Tränengas die Szene in einem flimmernden Filter erscheinen lässt. Ungefähr eine halbe Stunde zuvor muss ich genau dort gestanden haben, erklärte dem Besuch noch, wie in den letzten Wochen die gepanzerten Mannschaftswagen in der Innenstadt täglich anzutreffen sind, mit Polizisten die rauchend und scherzend daneben stehen, ihre Schilder am Zaun einer Schule lehnend. Ich verfolge vor meinem Laptop gebannt, wie ein britischer Reporter mit tränend roten Augen Schutz in einem Restaurant gesucht hat, im Hintergrund versucht einer der Kameramänner, sich das Tränengas aus den Augen zu waschen. Ich rufe meine türkischen Freunde an, und bekomme von allen die gleiche Reaktion der Gattung "Das ist doch ganz normal, so etwas passiert eben häufig." 
Und leider haben sie nicht Unrecht, was die Häufigkeit des Vorkommens angeht, normal ist das jedoch für mich noch keinesfalls geworden. Gerade erst letztes Wochenende hatte ich eine Szene an gleicher Stelle beobachtet, in der eine sehr übersichtliche Demonstration von ungefähr zwanzig Menschen von einer gleich großen Gruppe bewaffneter -und vor allem gewappneter- Polizisten begrüßt wurde. Eine Eskalation blieb aus, sodass ich einige hastige Bilder fotografieren konnte.
Kleine Demonstration gegen Russlands Eingreifen in Syrien

Kleines Polizeiaufgebot auf der Istiklal

In einiger Entfernung: die Helmträger haben sich positioniert


Der Anlass der von öffentlicher Seite vehement bekämpften gestrigen Demonstration war ein Trauermarsch für Tahir Elçi, ein kurdischer Menschenrechtsanwalt, der morgens bei einer Rede, in der er für türkisch-kurdischen Frieden plädiert hatte, erschossen worden war. Zuvor hatte er bei CNN geäußert, die Einstufung der pro-kurdischen PKK als terroristische Organisation sollte überdacht werden, unter Anderem wegen ihres Kampfes gegen den IS. Er war ein Mann von hoher Stellung und Achtung gewesen, der der Regierung ein Dorn im Auge gewesen ist, weshalb die Demonstranten am nachmittag der Regierung die (Mit-)Schuld an seiner Ermordung gaben. Dies ist leider nicht allzu abwegig vor dem Hintergrund, dass in der Vergangenheit auffällig häufig Regierungskritiker im Offenen wie im Verborgenen inhaftiert oder umgebracht wurden. Das letzte Beispiel dieser nicht enden wollenden Unterdrückungsserie war die Inhaftierung des Chefredakteurs der Zeitung Cumhuriyet, zuletzt noch für ihre kritischen Berichte zur Zeitung des Jahres gekürt, den nun eine lebenslange Haft erwartet, weil er mögliche Waffenlieferungen der Türkei an syrische Rebellen aufgedeckt hatte. Der deutsche Journalist, den ich hier kennen gelernt habe, arbeitet hier für die Cumhuriyet und erzählte mir, wie auch andere seiner Kollegen, die ich an einem Barabend kennenlernen durfte, unter Anklage stehen.
Im Internet kursiert das Video, das zeigt, wie bewaffnete Männer auf den kurdischen Anwalt zustürmen, und wie zwei Zivilpolizisten auf sie schießen, um sie aufzuhalten. Bemerkenswert ist, wie die Männer, auf die aus nächster Nähe geschossen wird, nicht aufgehalten werden können geschweige denn verletzt zu sein scheinen. Kurz danach hat die Kamera auch ein Detail festgehalten, welches wohl unabsichtlich dokumentiert wurde: einer der Polizisten wechselt die Waffe, mit der er auf die Angreifer gefeuert hat, aus. Spult man zurück, sieht man wie die Projektile die auf die Mörder gefeuert werden, von ihnen abprallen. Ich möchte gar nicht anfangen zu begreifen, was dies bedeutet. Ein regierungskritischer Anwalt, der in der Vergangenheit Menschenrechtsverstöße der türkischen Polizei aufgedeckt hat, wird angegriffen, die "Rechtshüter" die dies verhindern könnten, schießen mit harmlosen Waffen, und lassen der Ermordung ihren Lauf. Menschen, die über dies aufgebracht sind und von ihrem Recht der Meinungsäußerung Gebrauch machen, werden wie gefährliche Randalierer bekämpft, Journalisten, die über solche Vorfälle berichten, werden wie Verbrecher inhaftiert, die Justiz, die gegen solche fraglichen Vorfälle ermittelt und Ungerechtigkeiten ans Licht bringt, wird aus dem Weg geschafft. Dieser Teufelskreis verengt sich und die Rage der nicht nationalistisch eingestellten Bürger ist wieder erwacht.

Zuletzt, nach der Wahl Anfang des Monats war es nämlich gespenstisch ruhig geworden. Die Berechnung Erdoğans hatte ihm einen Wahlerfolg eingebracht, wobei die Menschen die im Angesicht der aktuellen "Unruhe" des Landes ihren Sicherheit-versprechenden Autokraten wiedergewählt haben, nicht realisieren zu scheinen, dass ebendieser seinerseits ein gerissener Unruhestifter ist, möchte man ihn euphemistisch beschreiben. Die Gespräche mit meinen türkischen Freunden waren von Ernüchterung dominiert, ein paar von ihnen sagten mir, nach diesem Wahlergebnis könnten sie sich das erste Mal vorstellen, ihre geliebte Türkei zu verlassen und auszuwandern. Ich frage mich, ob dies die Schlussfolgerung sein wird, ob der Großteil der klugen jungen Köpfe ernüchtert das Land verlassen wird, oder ob es zu einer neuen Protestwelle im Gezi-Stil kommen wird. Wenn es in Gesprächen um die Geziproteste von 2013 geht, funkelt es in den Augen meiner liberal eingestellten Freunde. Damals hatten sie das Gefühl gehabt, etwas bewirken zu können, verschiedenste Gruppen hatten sich zusammengeschlossen, um für eine bessere Version ihres Landes zu kämpfen, Idealismus und Hoffnung hatten sie jeden Tag auf Neue auf die Straße getrieben. Was bleibt aus dieser Zeit, fragen sich viele, die innerlich aufgegeben zu haben scheinen, die auf die Ereignisse von gestern inzwischen mit einem Schulterzucken reagieren.



Berichterstattung des britischen Reporters:
https://www.rt.com/news/323836-tahir-elci-protest-istanbul/

Video, in dem man die abprallenden Projektile sieht:
https://www.facebook.com/100008270389012/videos/1655721538046843/?pnref=story

Bericht der Süddeutschen Zeitung:
http://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-demo-fuer-getoeteten-kurdischen-anwalt-eskaliert-1.2759264

Verhaftung des Chefredakteurs der Cumhuriyet:
http://www.tagesschau.de/ausland/journalisten-103.html

Bericht des deutschen Journalisten zur Verhaftung seines Chefredakteurs und
Brief an Angela Merkel im Namen der türkischen Journalisten:
http://www.handelsblatt.com/politik/international/presse-in-der-tuerkei-verhaftete-journalisten-appellieren-an-merkel/12652194.html


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