http://www.n-tv.de/politik/Wir-haben-gewonnen-article18242161.html
Istanbul scheint
derzeit im Tageslicht seinen üblichen Geschäften nachzugehen, in den Nächten
aber ist nach dem vereitelten Putsch vom Freitag nichts mehr wie es war.
Allabendlich treffen sich Anhänger der Regierung auf öffentlichen Plätzen, um
ihr Land und dessen Entwicklungen zu feiern.
Am frühen Abend treffe
ich auf dem Taksim-Platz meine Bekannte Alia*, die für den türkischen
Nachrichtensender TRT arbeitet. Sie war in der Nacht des Putsches dabei, als
Soldaten in das Gebäude des Senders eindrangen. Auf ihrem Handy zeigt sie mir
das Video einer Sicherheitskamera, das ihren Arbeitsplatz zum Zeitpunkt der
vorläufigen Übernahme durch die Putschisten zeigt. "Aber wir haben gewonnen!",
sagt sie mit strahlendem Gesicht. Sie empfindet die Ereignisse der letzten Tage
als Sternstunde der türkischen Demokratie. Gestern hat sie sich mit einem ihrer
Freunde zerstritten, weil dieser kritisch über die aktuellen Maßnahmen der
Regierung gesprochen hat.
Auf der Straße vor dem
Café, in dem wir sitzen, dämmert es langsam, und der allnächtliche Trupp
grölender Menschen zieht mit einer überdimensionalen Türkei-Flagge die
Haupteinkaufsstraße entlang. Instinktiv schaue ich mich nach bewaffneten
Polizisten um, die hierzulande normalerweise bei jeder noch so kleinen
Demonstration in Überzahl präsent sind. Doch jetzt sind keine Uniformierten zu
sehen.
Alia kann meine
Schreckhaftigkeit nicht verstehen. Sie meint, ich solle die Atmosphäre dieser
historischen Tage genießen. Sie weiß nicht, dass ich vor kurzem zufällig eine
prokurdische Demonstration beobachtet habe. Ich konnte sehen, wie brutal die
Polizei mit friedlichen Demonstrierenden umgeht, wie Wasserwerfer zum Einsatz
kamen. Ich selbst konnte das Tränengas in meinen Augen spüren. Auch scheint
Alia nichts von der regelrechten Pogromstimmung mitbekommen zu haben, die in
den letzten Nächten in den Seitengassen der Stadt herrschte. In einem
Studentenviertel wurden Menschen angegriffen, weil sie Alkohol tranken. Auch
Angehörige von Minderheiten wurden attackiert.
Wir mischen uns unter
die Menge, die minütlich zu wachsen scheint und den gesamten Platz füllt. Der
Taksim, der noch vor drei Jahren Schauplatz der Gezi-Proteste war, ist ein
einziges Fahnenmeer, es herrscht eine Stimmung wie bei einem Volksfest. Rote
Luftballons, Türkei-Schals und Bänder mit der Aufschrift "Recep Tayyip
Erdoğan" werden verkauft, eine Mutter bindet ihrem freudestrahlenden Kind
eines um den Kopf. Auch Alia hat eine Fahne dabei und posiert für Fotos, die
sie dann unter der Überschrift "Alles für die Türkei. Gott segne dieses
Land!" in diversen sozialen Netzwerken teilt.
Über riesige
Lautsprecher ertönt türkische Musik, die Menge liegt sich euphorisch in den
Armen. Von einer Bühne kommen die immer gleichen Parolen: "Ihr seid
Helden! Der 15. Juli 2016 wird in die türkische Geschichte eingehen! Ihr habt
die Ehre dieses Landes bewahrt!" Ein Kleinkind ist auf die Bühne
geklettert und schwenkt eine türkische Fahne, auch ihm jubelt die Menge zu.
Plötzlich ertönt wieder das laute Hupen, welches die Stadt in diesen Nächten
wachhält, ein Moped-Korso kreist um die Atatürk-Statue herum. Auf das Denkmal
sind einige junge Männer geklettert und zünden Leuchtfeuer, die ihre Gesichter
in rotes Licht tauchen.
Natürlich kann ich
nachvollziehen, dass Alia sich ihrem Land verbunden fühlt, wo sie einen
sicheren Arbeitsplatz hat und ihren Glauben frei leben kann. In der
Ausgelassenheit dieser Tage scheint sie jedoch nicht in Betracht zu ziehen,
dass dies nicht allen hier so geht. Menschen, die nicht gläubig sind, die
kritisch über die Maßnahmen der Regierung denken oder die einer ethnischen
Minderheit angehören, sind vermehrt Repressionen ausgesetzt. Ein Dialog
zwischen den Seiten der gespaltenen türkischen Bevölkerung scheint in immer
weitere Ferne zu rücken.
* Name geändert
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