Nach
einer Geburtstagsparty, auf der ich stolz herausfinden konnte, wie ein bisschen
Bier meine Fähigkeit zum Türkisch-Sprechen erheblich verbessert, wollte ich
gestern nicht so recht auf den sanften Weck-Ton meines Telefons hören. Diese
Woche führt mir bisher mein Scheitern an der selbstständigen Zeiteinteilung vor
Augen, denn Vorlesungen muss ich diese Woche in meiner türkischen Uni nicht
besuchen, muss nicht jeden Morgen den langen Weg auf die historische Halbinsel,
in die Moscheen-gesäumte Altstadt der Makro- äh, Metropole antreten, sondern
kann die freie Zeit für ausgiebige Prüfungsvorbereitung nutzen - eigentlich.
Gestern wachte ich also wenn auch nicht früh, dafür halbwegs motiviert auf, um
endlich meine Phase der Produktivität zu starten. Wie es eine leidige
Angewohnheit meiner Informations-Gesellschafts-Generation ist, öffne ich als
erste Aktion des Tages den Laptop. Es ist 10:50 Uhr, und eine Nachricht von
einem Freund, der als Journalist arbeitet, informiert mich sogleich, dass eine
halbe Stunde zuvor eine Explosion den zehn Kilometer entfernten touristischen
Stadtteil Fatih erschüttert hat. Noch müde versuche ich, diese Information zu
verarbeiten und stelle etwas irritiert fest: überrascht, geschockt, sprachlos
bin ich nicht. Ich erinnere mich an die Worte meiner Mitbewohnerin, die vor ein
paar Wochen nach Ausschreitungen der Polizei gegen Zivilisten schulterzuckend
meinte, es wäre zu erwarten gewesen. Geschockt war ich zu der Zeit noch über
die Gelassenheit, mit der schlechte Nachrichten von meinen türkischen Freunden
aufgenommen werden, nun scheine ich selbst eine Art Abgestumpftheit entwickelt
zu haben.
Noch
bevor ich dazu komme, meinem Körper Frühstück zu gönnen, bleibe ich am
Bildschirm kleben, durchforste die spärlichen Berichte, die sich so kurz nach
dem Ereignis überhaupt finden lassen, habe aber dank Reporter-Freund eine Art
persönlichen und vertrauenswürdigen News-Stream. Ich denke als erstes nicht
daran, dass ich dort hätte sein können, stattdessen denke ich an meine Familie.
Ohnehin sind sie angespannt, das Küken der Familie in einer Großstadt, in einem
Land, dass an ein Kriegsgebiet grenzt, zu wissen. Also schicke ich die kurze
Botschaft „Mir geht’s gut!“ nach Deutschland. Vergessen hatte ich jedoch, dass
in meiner Familie alle Generationen über der meinen nicht in der Welt der
ständigen Information und Aktualisierung leben, und so bekam ich liebreizende
Antworten im Format „Wie schön, möge es noch lang anhalten! Mir geht es heute
auch gut.“ zurück.
Der
Grund für die karge Berichtslage ist eine Nachrichtensperre, die kurz auf den
Anschlag folgend verhängt wurde, auch das ist etwas, das mich nicht überrascht,
hat die Presse doch seit Wochen wortwörtlich nichts mehr zu melden in diesem
Land. Stattdessen eine Erklärung der Regierung höchstpersönlich, die bereits
nach wenigen Stunden den Täter identifiziert zu haben scheint. Mein Aufenthalt
hier hat mich leider gelehrt, der türkischen Regierung keinen Glauben zu
schenken, zu oft werden Tatsachen verdreht, das eigene Volk betrogen und
misshandelt, Andersdenkende als direkte Bedrohung empfunden und inhaftiert oder
anderweitig aus dem Weg geschafft. Noch kurz zuvor hatte der werte Präsident in
einer Rede gegen eine Petition gewettert, in der Intellektuelle ihn auffordern,
den Krieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes zu
beenden. Seit Wochen kursieren Bilder von verhungernden Menschen in jenem Teil
der Türkei, Gebiete, die vom Militär seit Wochen von der Außenwelt, von
medizinischer Versorgung, von Nahrungsmitteln abgeschnitten sind, einige
Menschenrechtsorganisationen warnen vor drohendem Kannibalismus. Das dies
kritisiert wird, von Unterzeichnern wie Noam Chomsky, wird von Erdoğan augenscheinlich als persönliche
Beleidigung empfunden, er droht mit Haftstrafen gegen lokale Unterzeichner und
lädt internationale Unterzeichner ein, sich selbst davon zu überzeugen, die
Verletzungen von Menschenrechten, die im Südosten des Landes geschehen, seien
die Taten von Terroristen, nicht die des Staates. Um dies als absurde Äußerung
zu entlarven, reicht es, unabhängige Medien zu verfolgen, Berichte
internationaler Beobachter zu lesen, oder aber, ohne sich in ein Gebiet des
Bürgerkrieges zu begeben reicht es aus, wie ich in Istanbul zu leben, um
Menschenrechtsverletzungen der Regierung und Polizei an eigenen Bürgern zu
bezeugen (siehe hierzu z.B. meinen Artikel „Wütende Augen weinen – mein erster
Tränengasrausch“).
Diese
Verdrehungen von Tatsachen, Ungerechtigkeiten gegen Zivilisten beschäftigen
mich seit meiner Ankunft hier vor vier Monaten, und haben mich dazu bewegt, mit
dem Aufschreiben, mit dem Informieren von deutschen Freunden zu beginnen.
Bisher schienen außer einer Handvoll guter Bekannter aber nicht viele Zeit
gehabt zu haben, zuzuhören, in deutschen Medien suchte ich bisher vergeblich
nach ausführlichen Recherchen und Kommentaren, zum Beispiel nach dem
schrecklichen Attentat von Ankara, bei dem über 100 Menschen zerfetzt wurden.
Nun aber die erschütternde Nachricht: unter den Opfern befinden sich Deutsche.
Dass Menschen sterben als Opfer des Terrors ist unvorstellbar schrecklich, doch
auch dieser Anschlag ist für mich einer von vielen, die in den letzten Wochen,
Monaten, Jahren unsere Welt erschüttern. Mein Abenteuer Auslandsaufenthalt in
der Türkei hat mich gelehrt, wie sich eine Hierarchisierung von Toten nach
Attentaten für meine türkischen Freunde anfühlt. Schon nach den Ereignissen von
Paris war mir dies aufgefallen („Weltzentrismus – Überlegungen zu den
Anschlägen in Paris“). Nicht erst seit gestern empfinde ich Terrorismus als
nahe, als reale Bedrohung, doch nun da Deutsche erstmals in größerem Ausmaß ‚persönlich’
betroffen sind, erlangt das Thema im Zusammenhang mit der Türkei eine neue
Welle an Aufmerksamkeit in den Medien. Dies ist zutiefst menschlich, auch ich
würde die türkische Politik nicht so aufmerksam verfolgen, wie ich es derzeit
tue, wäre dieses Land nicht meine vorläufige Heimat. Umso mehr hoffe ich,
Berichte, wie ich sie gestern in der ARD Sendung „Brennpunkt“ gesehen habe,
werden nun häufiger und das Geschehen hier damit realer für Deutschland,
welches sich jüngst die Türkei als Partner in der Syrien-Krise angelacht hat.
Es wurde nämlich in der Sendung darauf hingewiesen, dass die türkische
Regierung, die sich nach außen als großer Bekämpfer des Terrorismus aufspielt,
nebenbei noch einen ganz anderen Krieg, nämlich gegen die eigene
kurdisch-stämmige Bevölkerung führt. Die Menschen hier werden nicht von ihrer eigenen
Regierung geschützt, und vielleicht ist mit diesem traurigen Anschlag ein
Aufrütteln geschehen, vielleicht wird man die bisher übermäßig freundliche
Position gegenüber der Türkei, vor dem Hintergrund, in Fragen von Migrationspolitik
auf sie angewiesen zu sein, überdenken müssen. Die Türkei spielt eine komplexe
Rolle im wirren Konflikt um Syrien und Terror, und hat sich in letzter Zeit
viele Feinde gemacht.
Den
gestrigen Tag habe ich also damit verbracht, SMS und Nachrichten von besorgten
Freunden zu beantworten, und ich wurde gebeten, vorsichtig zu sein. Was damit
gemeint ist, ich bin mir nicht sicher, wie befolge ich die Bitte „Pass auf dich
auf!“? Das Auswärtige Amt riet, sich von
größeren Menschenansammlungen fernzuhalten, was mein überfordertes Gehirn
überlegen ließ, sind 10 Menschen, die auf den Bus warten, eine
Menschenansammlung, 50 Menschen, die in einem Restaurant speisen, 100 Menschen,
die in einem Hörsaal sitzen? Eher aus Gebanntheit und Faulheit als aus
Terrorangst bin ich dann einfach zu Hause geblieben, vor dem Laptop, vor dem
Smartphone, und habe mich doch den Ereignissen näher gefühlt, als gedacht.
Gegen Abend hat meine Mutter dann wohl den Fernseher in einer Kleinstadt in
Brandenburg angeschaltet und realisiert, was es mit meiner Nachricht vom
Vormittag auf sich gehabt hatte. Ein ihrerseits bestürztes Telefonat folgte,
ich erklärte ich könnte nur kurz reden, weil ich gerade im Türkisch Kurs sitze,
woraufhin sie fragte, ob ich denn dort bleiben wolle. Ich war kurz verwirrt, natürlich
möchte ich im Türkisch Kurs bleiben, ich möchte mich doch besser verständigen
können! Dass sie damit meinte, ich solle nach Berlin zurückkehren, wie ihre
Freunde es ihr nahegelegt haben, überraschte mich zunächst, da ich mich schon
in anderen Situationen hier bedrohter gefühlt habe, andere Ereignisse von
größerem Ausmaß mich eher ins Grübeln gebracht hatten (siehe "Die rote Fahne - der Anschlag von Ankara"). Damit möchte ich nicht
relativieren, was geschehen ist, vermutlich ist die mentale Banalisierung der
Geschehnisse nicht zuletzt ein Abwehrmechanismus meines Gehirns, um mich nicht
in Panik verfallen zu lassen. Meine Mutter hat dann aber auch festgestellt,
dass sie leider nicht ausschließen kann, dass das Gleiche in Berlin hätte
passieren können. Immerhin ist Deutschland vor ein paar Wochen überstürzt in den
Krieg eingetreten, hat sich somit seinerseits neue Feinde gemacht.
Auch
Deutschland liefert Waffen in ein Kriegsgebiet, die in falsche Hände geraten
können. Ich bin keine Expertin von Terror, von Krieg, von Politik, herrje,
nicht einmal Expertin von dem, was ich studiere. Aber ich beobachte mit deutscher
Prägung tief in meinem Wesen verankert, was hier geschieht, und hoffe, dass nun,
da es um deutsche Opfer geht, besser spät als nie genau hingeschaut wird,
präzise ermittelt wird, und die Rolle der Türkei in der sogenannten
‚Fluchtursachenbekämpfung’ und im Kampf gegen den Terror hinterfragt wird. Denn
der Terror der von der Regierung gegen die eigene Bevölkerung verübt wird, und
öffentlich wiederum vehement negiert wird, will nicht so recht in das Bild
passen, in das Bild des neuen Freundes Türkei, mit dem Deutschland versucht,
die Terror-Krise in und um Syrien einzudämmen.
Ich
bin zutiefst bestürzt über die Ereignisse von gestern, gleichzeitig wohlauf,
aus Glück. Nicht zuletzt hatte ich bis hierhin soviel ‚Glück’ von
menschenverachtenden Geschehnissen verschont zu bleiben, weil ich in einem der
reichsten und stabilsten Länder der Welt aufgewachsen bin, in welchem ich,
soviel es auch zu kritisieren gibt, noch nie derartige
Menschenrechtsverletzungen von Regierungsebene aus beobachten musste, wie ich
es hier tue. Ich habe mich in ein neues Umfeld begeben, um neue Realitäten
kennen zu lernen, unter Anderem muss ich hier realisieren, wie unterschiedlich
mein Leben als Westeuropäerin im Vergleich zu klügeren, innovativeren,
kreativeren jungen Menschen verläuft, die aber in der Türkei geboren sind,
schon einige Freunde durch Bombenanschläge verloren haben und schon unzählige
heftige Situationen in ihrem Leben durchstehen mussten. Darum hoffe ich, dass
der grausame Tod der Deutschen auf türkischem Boden auch dazu führen kann, die
grausamen Tode zu beleuchten, die türkische Staatsbürger jeden Tag auf dem
selben türkischen Boden sterben.
http://www.ardmediathek.de/tv/Tagesthemen/tagesthemen/Das-Erste/Video?documentId=32738078&bcastId=3914
http://www.handelsblatt.com/politik/international/explosion-in-istanbul-wann-sorgt-erdogan-fuer-frieden/12819802.html
http://www.hurriyetdailynews.com/erdogan-slams-academics-over-petition-invites-chomsky-to-turkey.aspx?pageID=238&nID=93760&NewsCatID=338
http://www.welt.de/politik/ausland/article150963410/Warum-die-schnelle-Taeter-Identifizierung-seltsam-ist.html
http://www.welt.de/politik/ausland/article150963410/Warum-die-schnelle-Taeter-Identifizierung-seltsam-ist.html
Ja!! Sehr sehr ähnliche Erfahrungen, Empfindungen, Beobachtungen und Resignation.
AntwortenLöschen"Die Menschen hier werden nicht von ihrer eigenen Regierung geschützt, und vielleicht ist mit diesem traurigen Anschlag ein Aufrütteln geschehen.."
Und doch schafft Erdogan es sich als einziges Werkzeug für die Sicherheit darzustellen und als großen Beschützer.
Wiederholt in einem die eigene Bevölkerung quasi anklagenden Tonfall schien das Statement zu sein, mit mehr Unterstützung und Macht seiner Person sei das Volk sicher und all das wäre nie passiert.
Vor der 2. Wahl ein "Tja wenn ihr mich nicht an die Macht lasst, dann wird es ja auch keine Sicherheit geben. Schaut mal, in Ankara.. Jaja das war die PKK. Sowas passiert hier wenn ich Euch nicht beschütze"
Ich bin in den Wochen um die Wahlen herum ein wenig durch die Türkei getrampt - ein bisschen Land, ohne Großstadt, mit anderer Medienpräsenz, anderer politischer Bedeutung - und konnte mit naiver, unwissender Ausländer-Erscheinung fragen "Was haben Sie denn gewählt, was werden Sie diesmal wählen?" - "AK Parti" - "Ah und warum?" - "Damit die AKP genug Stimmen bekommt, sonst kann sie ja nicht regieren" - Als gäbe es keine Alternative. Und es muss ja eine Regierung geben.
Erdogan schafft es aber auch nach solchen Ereignissen wie Vorgestern durch aussagen wie “Pick a side. You are either on the side of the Turkish government, or you’re on the side of the terrorists." einen Standpunkt zu kreieren der uns zeigt, dass all seine Gegner den Terror fördern.
Wieder ein unterschwelliger Vorwurf an das eigene Volk 'Ihr steht nicht alle geschlossen hinter mir, ihr habt mir nicht genug Macht gegeben, jetzt seht ihr was dann passiert."
Ein weiterer Anschlag, unmittelbare Konsequenzen - mehr Polizeipräsenz, Überwachung, Eingriffe in die Freiheit derer die sich in der Türkei aufhalten.
Und so scheint er sich Sprosse für Sprosse eine Leiter diktatorischer Kontrolle hoch zu schleichen. Eine Leiter, die Meinungen Verbannt, dem Terror allerdings seinen Spielraum lässt.
Danke für den Kommentar! Ja, genauso scheint es leider zu sein, Erdogan arbeitet auf den Machtausbau hin und Europa scheint das im Moment nicht sehr zu interessieren. Ich bin gespannt, wie die angekündigte Verfassungsänderung aussehen wird, und frage mich, ob das zu mehr Resignation führen wird, oder vielleicht ja sogar zu erneuten Protesten. Wir werden sehen, was der Sommer bringt.
AntwortenLöschenSabina