Der Polyträumer Adventskalender öffnet seine Pforten für euch!
Kleine Füße in Glitzerstrumpfhosen tippeln aufgeregt durch
das Forum der Urania, ungeduldige Mädchenhände ziehen ihre schwerfälligen Großeltern
in Richtung des Humboldt-Saales, wo das russische Nationalballett Tschaikowskys
Dornröschen aufführt. Kurz später im Saal verstummt das wirre Murmeln
schlagartig, als der schwere Samtvorhang den Blick auf die prächtige
Märchenbühne freigibt. Bis zur Präzision trainierte Tänzerkörper erzählen die
Geschichte der Königstochter, die aufgrund eines Fluches in einen
hundertjährigen Schlaf verfällt, bevor sie vom heldenhaften Kuss des Prinzen
erlöst wird.
Ich erinnere mich an meine Ballett-Tanzstunden, wie ich an der
Schwelle zur Pubertät tatsächlich selbst leidenschaftlich von einer Ballerina-karriere
träumte. Für eine kurze Weile war ich eines der kleinen Mädchen, die auf der
Bühne zaghafte Pas-des-chat Sprünge machten und mit staunender Bewunderung große
Ballettaufführungen verfolgten. Das war bevor ich verstanden habe, was der Job wirklich
bedeutet. Aber auch bevor ich ein realistisches Verständnis der Welt hatte,
lang bevor ich begriffen hatte, dass meine Optionen mehr als ein Prinzessinnen-
oder ein Ballerina-Dasein umfassten, und sehr lang bevor ich einen milden Hass
gegenüber dem Prinzessinen-Kult entwickelt habe, der für kleine Mädchen
betrieben wird, wie sie mich heute in diesem Saal umgeben.
Heute beobachte ich die Tänzerinnen, deren riesiges Lächeln
unter ihrem dickem Make-Up bizarr maskenartig aussieht, und die kleinen
Mädchen, die sie mit funkelnden Augen anhimmeln während mein eigenes Gesicht in
nachdenklichen Falten erstarrt ist. Was geht den kleinen Mädchen wohl durch den
Kopf, während sie die exakt einstudierte Leichtigkeit in den Bewegungen der
Solistin verfolgen, die als Dornröschen Pirouetten dreht und schließlich
atemlos, unter rasanten Hebungen und Senkungen ihres Brustkorbes, in den
vermeintlich verzauberten Schlaf fällt? Werden sie früher als ich verstehen,
dass sie auch selbst Ritterinnen, Wachküsserinnen, Kämpferinnen, oder gar
Firmenchefinnen in Glitzerstrumpfhosen sein können, wenn sie das möchten? Werden
sie sich so glücklich und verzaubert wie Dornröschen fühlen, wenn sie aus ihrem
ersten Rausch aufwachen, weil ein alkoholisierter Party-König seine Lippen
ungefragt auf ihre drückt?
Das Märchen des Dornröschen haben die Gebrüder Grimm aus
einer Erzählung von Giambattist Basile übernommen. In der ursprünglichen
Fassung der Geschichte „Sonne, Mond und Thalia“, die um 1636 erschien, war
statt magischem Wachküssen die Rede von einer Vergewaltigung der schlafenden
Prinzessin. Nach wie vor bewusstlos gebärt die Prinzessin in dieser früheren
Variante des Märchens Zwillinge, die sie schließlich aus ihrem Schlaf erwecken.
Am Ende der Geschichte wird Hochzeit gefeiert, die 16-jährige Prinzessin wird
mit ihrem Vergewaltiger vermählt.
Das heutige Glitzerspektakel auf der Bühne basiert indirekt
auf dieser verstörenden Überlieferung aus dem Anfang der frühen Neuzeit. Eine
Epoche die, wie es scheint, zuletzt unter Erdogan auch auf der Bühne des
Politikgeschehens ihre späte Renaissance feiert. Der selbst-ernannte König
setzt auf altbewährte Trends, die im Dornröschen-Stil eine echte Welt der
Märchen im Hier und Jetzt entstehen lassen soll.
Gegen seinen Gesetzesentwurf, nachdem Vergewaltiger von
Minderjährigen in der Türkei straffrei bleiben sollen, sofern sie ihre Opfer
heiraten, sind hunderte Frauen auf die Straße gegangen. Was ist ihnen wohl
durch den Kopf gegangen? Wie lang können sie noch als Kämpferinnen, als
Wachrüttlerinnen die Märchen ertragen, die ihnen erzählt werden? Ihre Gesichter
wirken nicht erstarrt, ihre Augen nicht verklärt, ihre Mimik auf den
Medienfotos ist entschlossen, wütend. Sie wollen einen Neuentwurf der
Erzählung, die Erschaffung einer unverklärten Narrative, die uninszenierte
gerechte Chance, die ihnen zusteht. Sie machen die Hauptstraße Istanbuls zu
ihrer Bühne, sie versuchen alle, die immer noch schlafen, noch schwerfällig im
Konservativen schlummern, in eine andere Richtung zu ziehen, ihre Realität ins
Licht zu rücken. Sie haben wie ich genug vom Märchen der Hilflosigkeit.
http://guardianprincesses.com
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