In den letzten Tagen leuchtete der Bildschirm meines Telefons unerlässlich auf, intensive digitale Diskussion über die möglichen Themen, die in der anstehenden Prüfung relevant sein könnten. Dabei heben sich auf den Gesichtern deutscher Austausch-Studenten erstaunt Augenbrauen über die Hingabe einiger anderer Studenten unserer internationalen Seminargruppe, Hingabe mit der sie ein seitenlanges Dokument türkischer Erklärungen ins Englische übersetzten. Denn als europäischer Student, seien wir ehrlich, ist der Aufenthalt hier ein aufregendes Abenteuer, eine Möglichkeit, dem Studienalltag der Heimat zu entfliehen, und eher zweitrangig ist die intensive Hingabe dem Studium – daher das Erstaunen.
Raed,
Nezar und Mohammed sind drei Studenten unserer Seminargruppe, die ihr Studium nicht
in Europa, sondern in ihrer Heimat in Syrien begonnen hatten, nun sind sie in
der Türkei, nach den genauen Umständen zu fragen, hat sich bisher niemand so
recht getraut. Ich möchte mit naiven Fragen keinen wunden Punkt bei Ihnen
treffen, doch nach vorsichtigem Herantasten an das Thema merke ich, Dialog ist
immer besser als verunsichertes Schweigen. Raed ist der Clown der Gruppe, in
einem zweiten Leben wäre er wohl Komiker geworden, Nezar ist der kluge, kühle
Kopf, hinter einer Brille funkeln seine wachsamen Augen, Mohammed scheint
zunächst etwas stiller, doch schüchtern ist er eigentlich nicht.
Wir
sind sehr verschieden, unsere jungen Gehirne von so unterschiedlichen
Wertesystemen geprägt, und doch sitzen wir hier zusammen in der Mensa in
Istanbul, und plaudern über die Uni. Nach dem Essen wollte ich mich noch ein
bisschen nach draußen in die Sonne setzen, bis die nächste Vorlesung beginnt.
Höflich lehnen Nezar und Mohammed ab, sie nutzen die Zeit lieber fürs Gebet in
der Campus Moschee. Einige Wochen zuvor schrieben wir eine Liste für die
Professorin, welche Unterrichtsstunden wir aufgrund von
Weihnachts-Heimat-Besuch verpassen würden. Gedankenverloren schrieb ich mein
Datum auf, und reichte die Liste weiter an Nezar, der muss lachen und gibt die
Liste stattdessen an eine andere deutsche Studentin. So weltoffen ich glaube zu
sein, so ignorant komme ich mir vor in kleinen Situationen wie diesen, in denen
ich unbehelligt und ungewollt davon ausgehe, die Situation meines Gegenüber,
meines Nächsten sei die gleiche wie meine.
Dabei
erinnere ich mich, wie ich vor zehn Jahren eine ganze Woche lang Workshops
besucht habe, in Vorbereitung auf mein damaliges Austauschjahr zu Schulzeiten.
So viele Erkenntnisse und Aha-Momente wie in dieser Woche habe ich wohl seither
nicht mehr erlebt. In einer Simulation, in der nicht gesprochen werden durfte,
wurden alle Mädchen auf dem Boden platziert, alle Jungen saßen auf Stühlen,
seltsames Essen musste an sie gefüttert werden. Als wir nach einer
Interpretation gefragt wurden war für alle Simulationsteilnehmer klar: in
dieser fiktiven Kultur handelt es sich um eine Form von Benachteiligung der
weiblichen Gesellschaftsmitglieder. Nach langer, zehrender Auswertung gelang uns
aber der Durchbruch: Was, wenn wir nur von dieser Annahme ausgehen aufgrund
unserer Prägung und unseres Weltbildes? Könnte es nicht auch sein, dass wir so
interpretieren wie wir es tun, weil wir die gedanklichen Werkzeuge benutzen,
die uns zur Verfügung stehen, diese aber vielleicht nicht immer ausreichen, um
die Komplexität einer Situation zu erfassen? Meinem
Teenager-Ich wurde damals klar: ich werde mich nie vollständig in eine andere
Person, eine andere Kultur einfühlen können, zu sehr ist der Filter meiner
Prägung, durch den ich die Welt sehe, Teil meines Ichs. Aber ich kann mir
dieses Filters, dieser Tönung meines Blicks auf die Welt bewusst sein, und
dessen, dass mein Gegenüber seinerseits seinen eigenen Filter in sein
Wahrnehmungssystem integriert hat.
Meine
syrischen Kommilitonen fragen mich, wann ich zurück nach Deutschland gehe, und
fast reflexartig möchte ich im Small-Talk Stil die gleiche Frage entgegnen,
halte aber inne, als ich mich wieder erinnere, dass meine Gesprächspartner sich
den Aufenthalt hier nicht wie ich ausgewählt haben. Als hätte er meine Gedanken
gelesen sagt Raed lächelnd, „Naja, wir können nicht zurück nach Hause. Im
Moment nicht.“ Die Uni ist zerbombt, die Städte in denen sie ihr Studentenleben
begonnen hatten, nicht mehr wieder zu erkennen. Nezar hat noch vor einigen
Monaten in Syrien in einem Krankenhaus gearbeitet, er sagt „Das Schlimmste sind
die Kalaschnikows. Eine vergleichsweise billige Waffe, die den menschlichen
Körper am effektivsten zerfetzt.“ Wie es nach dem Studium für sie weiter geht,
ist ungewiss, in der Türkei fühlen sie sich geduldet, aber nicht sehr
willkommen. Die wichtigste Währung, die sie vorzuweisen haben, ist ihre
Bildung, für die sie mit Hingabe arbeiten, sie ist am ehesten
zukunftsversprechend. Sie haben nicht wie ich Türkisch gelernt, weil sie
Interesse an fremden Sprachen haben, sondern um den neuen Alltag zu überleben,
sie haben den Aufenthalt hier nicht gewählt, um ihren Horizont zu erweitern,
sondern um sich zumindest physisch vom Krieg zu distanzieren. Sie leben in
einer absolut anderen Realität als ich, doch gleichzeitig sitzen sie täglich
genau neben mir im Hörsaal.
Nach
meiner Rückkehr aus dem Austauschjahr hatte ich das Glück, meinen
Studentenalltag in einer fabelhaften Berliner WG, Tür an Tür mit einer
Mitbewohnerin zu beginnen, die mich inspiriert hat, mein Weltbild immer wieder
aufs Neue zu hinterfragen. Als Ethnologie Expertin machte sie mich mit dem
Konzept ‚Privileg’ vertraut. In abendlichen Diskussionen am Küchentisch redeten
wir über dieses Phänomen, das uns als Westeuropäer die Welt anders, ja oft
unbekümmerter, gedankenloser als andere Menschen erleben lässt. Bei der
Wohnungssuche wird meine finanzielle Absicherung nicht angezweifelt, würde ich
in ein anderes Land auswandern, niemand würde meinen legalen Aufenthaltsstatus
anzweifeln, sterben Menschen meiner Nationalität bei einem Bombenattentat, ist
dies in den Medien höchstpräsent, eine lange Liste von
Selbstverständlichkeiten, die ich nicht erkämpfen musste. Die einzigen Momente,
in denen ich je Angst um mein Leben hatte, waren nicht etwa wegen einer Attacke
von Nazis, oder während ich von Polizisten verprügelt wurde oder weil meine
Stadt vom Krieg verstümmelt wird, sondern während eines Rockkonzertes inmitten
des Moshpits und während einer Besteigung eines Vulkans in Ecuador bei der ich
Kreislaufprobleme bekommen hatte. Ich bin in Frieden aufgewachsen, und mir
stehen viele Türen offen, die anderen Menschen nicht offen stehen, ohne dass
ich explizit etwas dafür getan hätte, sondern schlicht und einfach weil ich in
einem Teil dieser runden Welt geboren bin, der als Westen bezeichnet wird, auf
einem Stück Land, das der deutschen Fahne zugeordnet wird, mit einer Hautfarbe,
die als nicht exotisch, gar als die Norm bezeichnet wird. Wer sind „Wir“ und
wer sind „die Anderen“, wo hört das eine auf, wo fängt das andere an? Wieso
habe ich Rechte, die anderen verwehrt werden, wie können Mitmenschen auf ihr
gesellschaftlich kreiertes Recht beharren und Kriegsüberlebenden dieses
vorbehalten wollen? Wir sind alle Menschen, und es geht uns alle etwas an, und
wenn besorgte Bürger auf die Straße gehen, dann weil sie sich plötzlich ihres
Privilegs bewusst werden und besorgt sind, dieses zu verlieren. Wenn Deutsche
kritisch, zynisch, abweisend gegenüber Geflüchteten stehen, wenn rechte
Tendenzen laut werden, dann weil unverdiente Privilegien in Gefahr gesehen
werden.
Besonders
jetzt möchte ich mir meine Prägung und daraus entstehende Vorurteile bewusst
machen, und mich erinnern, dass andere Prägungen nicht besser oder schlechter,
nicht richtig oder falsch sind, sondern einfach anders.
Ich möchte mir meinen Privileg und daraus
entstehende Blindheit erneut bewusst machen, und sehe es als meine Pflicht als
menschliches Wesen, zuzuhören wenn Menschen wie Raed, Nezar und Mohammed eine
für mich unvorstellbare Geschichte erzählen, hinzusehen, wenn Menschen vor dem
Krieg fliehen und aktiv zu werden, mit meiner Stimme, die entschieden für die
Willkommenskultur ruft, und mit der Bereitschaft, ungeschriebene Regeln zu
hinterfragen. Ich denke, ich bin damit nicht allein. Dies ist die Chance für
die „besorgten Bürger“, sich eigene unverdiente Vorteile bewusst zu machen, und
sich zu fragen, ob sie diese um den Preis der Menschlichkeit verteidigen möchten.
Die
Angst vor dem Fremden (SWR):
http://www.ardmediathek.de/tv/odysso-Wissen-im-SWR/Die-Angst-vorm-Fremden-Was-steckt-wirk/SWR-Fernsehen/Video?documentId=32107660&bcastId=246888
Was
ist White Privilege?:
https://en.wikipedia.org/wiki/White_privilege
Song
von Macklemore zur aktuellen Debatte in den USA:
http://www.whiteprivilege2.com
Prägung
verstehen:
http://www.eee-yfu.org/coloured-glasses/
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen