Erdogan beginnt, seine bereits
unübersehbaren de-facto-Machtstrukturen auf Verfassungsebene zu legitimieren.
Eine umstrittene Verfassungsänderung in der Türkei: sie
überrascht kaum jemanden, und wirft doch Fragen auf. Eine Mehrheit des
Parlamentes hat heute dafür gestimmt, die Immunität von Abgeordneten gegenüber
strafrechtlicher Verfolgung aufzuheben. Dies bedeutet, Parlamentsmitglieder,
die eine Straftat vor oder nach der Wahl begangen haben sollen, dürfen nun
festgenommen, verhört, verhaftet oder vor Gericht gestellt werden. Doch dies
soll nur für einen bestimmten Anteil des Parlaments gelten, nämlich für jene
Abgeordneten, die als regierungskritisch gelten.
Erdogans Plan des Machtausbaus in dieser Form war seit
längerem bekannt, und doch blieb bis heute die Hoffnung bestehen, dieser
nächste bedeutende Schritt zur Autokratie in der Türkei würde nicht stattfinden
können. Von nun an scheint das türkische Parlament eine Gruppe von
Interessensvertretern zu sein, in der aber nur jene mit bestimmten Interessen
eine faire Behandlung erfahren, jene aber, die mit ihrer Meinung von der des
Regenten Erdogans abweichen, nun nicht nur de-facto sondern ab heute auch
verfassungskonform benachteiligt werden dürfen.
Bisher wurden Vertreter der prokurdischen Partei,
Andersdenkende, kritische Journalisten, Menschenrechtsanwälte,
Friedensbefürworter, Minderheiten-Sympathisanten, links eingestellte Studenten,
Liberalitäts-lieber, türkische Menschen, die von einem anderen Weg für ihr Land
träumen, mit erschreckender Selbstverständlichkeit und Selbstgefälligkeit vom
Staat als unglaubwürdig dargestellt und mundtot gemacht, der Regierungskritik
und Terrorvorwürfen wegen inhaftiert, wurden von der Bildfläche der
öffentlichen Politik-bühne gedrängt und verschwanden. Dass nun aber auch
Mitglieder des Parlamentes diesem fragwürdigen Agieren des Justizsystems zum
Opfer fallen können, ist ein neuer Tiefpunkt in der Scheindemokratie, in der
schon lange nicht mehr gleiche Rechte für alle gelten.
Ironisch ist, wie Befürworter einer friedlichen Handhabung
des Kurdenkonfliktes und Menschen, die sich beispielsweise im Namen der HDP für
Frieden einsetzen, als Regierungskritiker mit Nähe zu Terrororganisationen
beschimpft werden, von keinem geringeren als des türkischen Präsidenten
persönlich. Menschen, die Frieden wollen, sind also nach Erdogan’scher Logik
Terroristen. Diese absurde Taktik der Tatsachenverdrehung scheint aber dank
Propaganda und Infiltration der Medien, der Justiz und des Geheimdienstes zu
funktionieren. Obwohl die Wahl im November nachweislich von Wahlbetrug
begleitet war, kann dies allein nicht den haushohen Gewinn der AKP erklären.
Viele Bürger scheinen die Methoden des Autokraten, der inzwischen eine Art
Kultstatus erlangt hat, nicht kritisch zu hinterfragen.
Die deutsche Bundesregierung reagiert mit einer
„grundsätzlichen Sorge“, Merkel wird am Montag zu einem Gespräch nach Istanbul
kommen. Die offensichtliche Passivität, mit der die deutsche Regierung
Zwielichtigkeitsverhalten, Menschrechtsverletzungen und brutalen Machtausbaus
Erdogans und seiner Regierung seit Monaten zuschaut, muss wohl vom
Abhängigkeitsverhältnis in der Flüchtlingsfrage begründet sein, anders kann ich
es mir nicht erklären. Es klingt, als sehe man eigentlich die Warnlichter rot
aufblitzen, könne dies im Moment aber noch als Special-Effect einer
fremdartigen Disco abtun. So als höre man durch die Wand die Nachbarn ihre
Kinder schlagen, aber man redet sich ein, es sei nur wildes Toben der Kleinen,
und man möchte den Nachbarn nicht auf seine verurteilungswürdige
Verhaltensweise hinweisen, aus Angst, als Resultat dürfte man nicht mehr
kostenlos sein Wi-Fi benutzen.
Wo Sultan Erdogan bisher die Verfassung seines Landes
schlichtweg missachtet oder nicht anerkannt hat, hat er nun einen einfacheren,
besseren Weg gefunden: er hat die Verfassung nun einfach zu seinen Gunsten
geändert. Dieser Schritt ist ein Rückschritt, für eine moderne, demokratische,
friedliche Türkei, die in weitere Ferne zu rücken scheint.
http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-05/tuerkisches-parlament-beschliesst-aufhebung-der-immunitaet
http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-11/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-failed-state
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