Nach einem Abend, der eigentlich ganz ruhig verlaufen sollte, dann aber doch mit mehreren Bieren in mehreren Bars geendet ist, sitze ich in den frühen Morgenstunden müde in einem Restaurant und esse Kebap, um einen schlimmeren Kater zu verhindern. Meine Augen bleiben am Fernseher des Imbisses kleben, der Bilder von Chaos zeigt, blaue Lichter leuchten auf, rotes Blinken, eiliges Rennen, dunkle Gestalten, weinende Menschen. Die Schlagzeile beschreibt in knappen Worten: Terror in Paris, 140 Tote. Mein Gehirn ist vom Alkohol deutlich verlangsamt, aber im ersten Moment muss ich wohl ungläubig reagiert haben, im zweiten gemerkt haben, wie abgestumpft meine Seele von all den Bildern und Geschichten der letzten Wochen und Tage, über Gewalt und Unglück, Schmerz und Ungerechtigkeit sein muss. Mehr als Kopfschütteln und ein repetitiv geflüstertes "Fuck, fuck." bringe ich nicht zustande, krame in meinem müden Kopf, ob ich jemanden kenne, der in Paris lebt, und erinnere mich wie ich beim Besuch meiner Freundin dort jonglieren gelernt habe, mit meinem ersten Freund romantische Fotos vor dem Eiffelturm geschossen und mit meiner Schwester jede Menge Croissant mit Nutella verspeist habe.
Die eigentliche Welle der Verzweiflung, Anteilnahme, Fassungslosigkeit erwischt mich und meinen nun aufgeklarten Kopf erst am nächsten Tag, und zwar aus dem Internet heraus, von Facebook direkt in mein verblüfftes Gesicht. Ich muss an das Attentat von Ankara vor ein paar Wochen denken, die darauffolgenden Tage erhielt ich von Facebook-Posts türkischer Freunde schnellere und umfassendere Informationen als von Nachrichtenseiten. Nach diesem unfassbaren Unglück in Frankreichs Hauptstadt lese ich nun Beiträge aus allen Ecken der Welt, die in meiner (zugegebenermaßen für heutige Standards recht "übersichtlichen") Freundesliste vertreten sind. Profilbilder leuchten in blau-weiß-rot, und ich bin erstaunt, über die Anteilnahme, ich sehe Merkel's Stellungnahme, ich lese #prayforparis. Ich bin gerührt, so viel Unterstützung zu sehen, sei es auch nur die virtuelle, von der ich etwas mitbekomme. Aber ich merke auch, wie meine Augenbrauen sich skeptisch verkräuseln, und ich bekomme meine Stirn nicht mehr glatt. Was ist der Unterschied zwischen diesem und anderen Anschlägen? Warum spuckt mir mein Laptop heute die französische Fahne entgegen wenn französische Menschen auf tragische Weise ermordet werden, nicht aber wenn Körper in einer anderen Region der Welt von Bomben zerfetzt werden? Ich wünschte, dies wäre eine rhetorische Frage und verlangte laut Definition keine Antwort, weil diese so offensichtlich wäre. Kluge Menschen haben bereits Erklärungsversuche verbalisiert, sodass ich das Gefühl habe, ich sollte eine nicht allzu große Portion meines eigenen Senfes dazu geben, zum Senf-Sumpf der Reaktionen.
Was ich aber aus meiner neuen Position, geographisch wie auch persönlich gesehen, gelernt habe, ist, wie sich Eurozentrismus von der anderen Seite anfühlt. Meine türkischen Bekannten und Freunde haben keine Beileidsbekundungen bekommen von Menschen, die sie nicht einmal kennen, vom anderen Ende der Welt, als an die hundert Menschen in die Luft gesprengt wurden, immerhin ist dieses Unglück in der Türkei passiert. Dies zeigt ziemlich genau wo die mental skizzierte Grenze von Europa, und von neoeuropäische Staaten verläuft, ab wo es ein Angriff auf "uns" ist ("wir sind Paris") und ab wo es ein Angriff auf "sie" ist (dort drüben, weit weg von uns, ist etwas passiert, was ich morgen aber wieder vergessen haben werde). Dabei war der Terror doch schon längst "bei uns" gelandet, in Form von den Menschen, die versuchen, vor ihm zu fliehen. Aber nun erst ist es für manch einen Weißeuropäer real und empörend genug geworden, um sich persönlich angesprochen zu fühlen. Denn nun hat der IS die Blase zerstört, in der man sich entscheiden kann, zu leben, wenn man mit einer bestimmten Hautfarbe geboren ist in einer bestimmten Gegend der Erde, in der eine bestimmte Religion vorherrschend ist, in einem Staat, der eine bestimmte (Kolonial-)Geschichte und eine bestimmte wirtschaftliche Position hat, mit bestimmten Privilegien gegenüber dem Großteil des Restes der Welt, derer man sich gar nicht bewusst ist. Es wurden schon Leichen an Stränden der europäischen Union angespült, aber nun wurde ein Ziel getroffen, dass kein "ferner" Strand ist, sondern eine Metropole mit kalten Wintern, Teil des Herzens der kleinen heilen Welt in der man wählen kann, ahnungslos und selektiv wahrnehmend (und anteilnehmend) zu leben.
Vor ein paar Tagen war ich an der Mittelmeerküste im Süden der Türkei, um einen Kurzurlaub zu machen, der Großstadt zu entkommen. Ich habe im Bikini am Strand gesessen und bin im tiefblauen Salzwasser geschwommen, und war weit weg von allem, wie es schien, obwohl nur einige Kilometer entfernt am Strand von Lesbos randvolle Boote mit Menschen, die sowohl den Syrienkrieg wie auch die folgende Flucht überlebt haben, im Minutentakt landen. Ich kann das Privileg der Nicht-Wahrnehmung wählen, weil mich die Schicksale dieser Menschen, die scheinbar so anders sind als ich, nicht betreffen. Ich kann wählen, weg zu schauen, und nach Paris meinen Ärger gegen den fremden Rest der Welt zu richten, meine Angst gegen Muslime zu richten. Aber glücklicherweise, (ironischerweise hätte ich fast "gottseidank" geschrieben, in diesem Fall natürlich aus reiner Gewohnheit, nicht aus Gottesgläubigkeit), glücklicherweise zählt zu meinen Privilegien, die ich nicht gewählt und für die ich nichts getan habe, aber derer ich mir bewusst sein muss, auch eine gute Schulbildung und eine stetige Ermutigung meines kindlichen und später jugendlichen Gehirns zum eigenständigen Denken.
Und so entscheide ich mich für die Gruppe der Menschen, die hinschauen, nicht erst jetzt, sondern jetzt erst recht. Als beste Reaktion auf den Terror sehe ich, mich den Menschen anzuschließen, die durchschaut haben, dass die Welt rund ist und "Westen" relativ ist, dass Schürung der Angst und "besorgtes Bürgertum" genau das ist, was diese Gehirnwäsche-Opfer wollen, und dass Solidarität und Menschlichkeit, besonders gegenüber Menschen, die anders und mir fremd sind, in diesen Zeiten das einzig sinnvolle, clevere und notwendige ist, im Namen von Gott, im Namen von Allah, oder auch einfach im Namen des gesunden Menschenverstandes. Und so begehe ich den heutigen Volkstrauertag in Gedenken an die Menschen, die in Paris ermordet wurden, an die Menschen, die vor einigen Wochen in Ankara sterben mussten, an die Menschen, die vor einigen Tagen in Beirut ihr Leben gelassen haben, an die Menschen, die in Syrien dem Krieg zum Opfer gefallen sind, und derer, die auf der Flucht vor diesem Krieg im tiefblauen Salzwasser des Mittelmeeres verendet sind.
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