Letzte Woche führte mich mein Weg zur Uni wie immer durch
eine laute, dreckige Straße, voll mit Autoreparaturshops, Lastenträgern und
knatternden Mopeds. Auf dem Gehweg steht eine Mutter von ihren Kindern umringt,
bevor ich die Situation richtig registriere, bekommt einer der kleinen Jungs
eine gut sitzende Ohrfeige. Während ich mich im Vorbeigehen nach der Szene
umdrehe, entfernt sich der Junge weinend einige Schritte von seiner Mutter und
sie ruft in verärgertem Ton: „Recep,...“ und ein Schwall aus türkischen Wörtern
folgt, den mein noch müdes Gehirn aber nicht zu verstehen versucht. Ich muss
sofort an einen anderen Recep denken, der sich tatsächlich wie ein kleines Kind
verhält, im Vergleich zum Jungen auf der Straße aber eine Zurechtweisung
bitterer nötig hätte. Heute soll sich entscheiden, ob dies der Fall sein wird,
heute ist dieser Tag, der über die Zukunft der Demokratie in diesem Land
entscheiden soll.
Wie viel das, was hier heute durchgeführt wird, allerdings
mit einer Demokratie, mit einer freien geheimen Wahl zu tun hat, ist die eigentliche Frage. Denn Umfragen zufolge hat die linksorientierte HDP, auf
die meine Freunde und ich hoffen, sehr wohl Chancen, wieder Plätze im Parlament
zu besetzen. Ob die Ergebnisse aber die reale Meinung der Wähler widerspiegeln
wird, ist leider nicht sicher. Im Internet kursieren schon Bilder von Soldaten,
die im Osten des Landes Bürger mit Maschinengewehren an der Wahl hindern, oder
sie dazu zwingen, offen zu wählen. Diejenigen also, die sich der HDP verbunden
fühlen und sich nach Drohungen und einem tatsächlichen Bombenangriff auf eine
Friedensveranstaltung der Partei trotzdem zur Wahlurne getraut haben, wurden in
ländlichen Teilen der Türkei stark bedrängt. Demokratie sieht in meinem Kopf
anders aus. Tausende freiwilliger Wahlbeobachter sind heute im Einsatz, so auch ein Freund von mir im Norden von Istanbul. Einige von diesen Freiwilligen wurden schon festgenommen, der Grund ist unbekannt. Auch musste die HDP in den letzten Wochen alle ihre öffentlichen
Veranstaltungen absagen, aus Angst vor weiteren Angriffen, und nicht zuletzt
sind einige Kandidaten beim Bombenanschlag in Ankara ums Leben gekommen.
Um wie viel es für die Bürger geht, beschreiben Zeitungen
besser als ich, man spürt sehr wohl die Spannung in der Luft dieses sonnigen
Tages. Die Unis haben den nationalen Feiertag der Republiksgründung letzte
Woche um einen Brückentag erweitert, die Uhren wurden nicht umgestellt, um die
Bürger nicht zu verwirren, den ganzen Tag wird kein Alkohol verkauft, um alle
bei klarem Verstand zu haben. Ich begleite meine Mitbewohnerin zu einer Schule,
in der uns im Eingang ein übergroßes Atatürk Bild begrüßt. Hier herrscht ruhige
Atmosphäre, von der Wahlkabine aus hat man einen Blick auf den welligen
Bosporus. Ich höre wieder die Ströme rauschen und die Möwen kreischen, als wir
uns auf den Rückweg machen, und muss an den kleinen Recep zurückdenken. An dem
Tag hatten wir in der Uni im Hals-Nasen-Ohren-Kurs etwas über die Schallleitung
ins Ohr gelernt, die Physiologie des Hörens wurde wiederholt. Ich hoffe, dass
die Menschen die lauten Wahlparolen nicht nur gehört, sondern ihnen auch zugehört
haben und bei der Entscheidung auf ihr Herz lauschen.
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