Ein herbstlicher Sonntag in Istanbul, das grau-weiß der
Wolkendecke blendet in meinen Augen, der Geruch von Fisch streift meine Nase,
als ich mit meiner Mitbewohnerin in Beşiktaş unter wehenden Türkeiflaggen warte, um eine Fähre zur
asiatischen Seite der Stadt zu besteigen. Wenige hundert Meter von uns
entfernt, wird zur gleichen Zeit im Dolmabahçe Palast unter Blitzlichtgewitter die deutsche Bundeskanzlerin
empfangen, wahrscheinlich hat auch sie beim Spaziergang am Bosporus Ufer wie
ich, mit zusammen gekniffenen Augen auf die mächtige Stadt geschaut. Ein
deutscher Journalist, den ich im Sprachkurs kennengelernt habe, quält sich in
diesen Minuten durch endlose Sicherheitskontrollen, um einen kleinen Blick auf
das Schauspiel zu erhaschen. Ministerpräsident Davutoğlu hatte ein langes
Gespräch mit ihr, heißt es, und ich stelle mir sein kindliches Gesicht vor, das
mich jeden Tag von überdimensionalen Wahlplakaten herunter angrinst. Es soll
ein Gespräch der Annäherung sein, in dem sich Deutschland an seinen, über einen
jahrelangen Streit fast vergessenen Kameraden aus alten Zeiten wendet, um über
bisherige Meinungsverschiedenheiten hinwegzusehen, im Namen der „Krise“, und
neue Vereinbarungen zu treffen.
Der Krieg in Syrien treibt die Menschen in die Flucht, Menschen,
die lieber in den salzigen Wellen des Mittelmeers ertrinken würden, als weiter
in ihrer einstigen Heimat auszuharren und auf bessere Zeiten zu hoffen. Eltern
sitzen in wackligen Booten mit ihren Kindern, die noch nicht einmal sprechen,
geschweige denn schwimmen können, weil dies immer noch eine bessere
Überlebenschance ist, als das Festland, als der frühere Boden unter ihren
Füßen, der ihnen nun entrissen wurde.
Heimatlos zu werden, kann ich mir in meinen dunkelsten
Träumen nicht vorstellen, da ich zu der privilegierten Minderheit der Welt
gehöre, die im wirtschaftlich mächtigen, politisch stabilen Deutschland
aufgewachsen ist. Wer sind wir also, diesen Menschen ihre Hoffnung auf ein
besseres Leben zu versagen, ich habe nichts dafür getan, in meiner Heimat
geboren zu werden, es war einfach Zufall. Merkel beweist Stärke in dieser Lage,
indem sie ebendiese Meinung vertritt, und standhaft bleibt, was ihre
Willkommenspolitik gegenüber den Geflüchteten angeht, auch unter Kritik aus
ihren eigenen Reihen. Aber nun hat sie sich von der falschen Seite
Unterstützung geholt.
Die Türkei hat eine geographisch günstige Lage, um vermeintlichen
Einfluss auf die Ströme der Migration zu nehmen, Merkel weiß das, Erdogan weiß
das, es ist kein großes Geheimnis. Was irritiert ist, wie nun über Menschen in
Todesangst verhandelt wird, Leistungen und Gegenleistungen abgewogen werden.
Natürlich müssen auf politischer Ebene Weichen gestellt werden, um die große
Zahl an Menschen angemessen zu versorgen. Aber welcher kühne Geistesblitz
Merkel dazu gebracht hat, ausgerechnet jetzt die symbolische und faktische
Freundschaft mit der Türkei in eine ernsthafte, feste Beziehung zu verwandeln,
ist mir ein Rätsel. Erdogan spielt sich als großmütiger Retter in Merkels Krise
auf, und sie lässt es zu wie eine naive Prinzessin. Wie in einer modernen
Liebesgeschichte vergisst sie, wer sie ist, und wofür sie steht. Die EU als
Wertegemeinschaft, als Verfechter der Menschenrechte, und meine Güte, Friedensnobelpreisträger
reicht ausgerechnet dem Mann die Hand, der nicht nur im Wahlkampf als
skrupelloser Dirigent die ihn kritisierenden Menschen durch Hintertüren
verschwinden lässt, der unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terror seinen
ganz eigenen Krieg führt, immer mehr auch gegen seine eigenen Bürger. Der neue
Liebhaber Europas fordert Geld, Visaberechtigungen, eine Einladung zu
zukünftigen EU Versammlungen und nicht zuletzt eine Wiederaufnahme der
Beitrittsverhandlungen. So hat Erdogan also wieder einen Fuß in der Tür, die
zum vermeintlichen Wunderland Europa führt. Und wieder bestätigt sich, was sich
wie ein roter Faden durch seine Handlungen zieht: der Eigennutz als Motto, der
Machtausbau als erstes Item auf jeder seiner To-Do-Listen.
Denn würde es der türkischen Regierung um das Wohl seiner Bürger
sowie um das der Flüchtlinge gehen, würden ebendiese Familien nach der Flucht
in die Türkei sich nicht gegen die staatlichen Flüchtlingscamps entscheiden, um
lieber ihre Kinder in den regnerischen Straßen Istanbuls Schirme verkaufen zu
lassen, würde Erdogan die Bombardierung von IS Formationen nicht als Ablenkung
benutzen, seinen Krieg gegen die Kurden fortzusetzen, um damit gegen diese
Bevölkerungsgruppe zu hetzen, würden junge Türken nicht versuchen entweder auch
für ein sicheres Leben nach Europa aufzubrechen oder gegen ihr Land in seinem
derzeitigen Zustand zu protestieren.
Während Merkel nun also auf einem goldenen Stuhl neben dem Wachsfigur-ähnlichen
Erdogan sitzen muss, sitze ich neben meiner Mitbewohnerin auf einer Holzbank
auf der Fähre. Nach einem Frühstück in Üsküdar treffe ich mich mit einer
anderen Freundin in Kadıköy,
neue Hochburg der alternativen Szene. Am Hafenufer liegen Zigaretten und
Muscheln, im Wasser blitzen die silbernen Schuppen von kleinen Fischschwärmen
auf, die zwischen Quallen und Plastikmüll dahin schwimmen, die Fähre macht sich
rauchend wieder auf den Weg auf die andere Seite und auch hier wehen türkische
Flaggen im seichten Wind. Auf dem Platz vor der Fähranlegestelle ist der
Wahlkampf voll entfacht, und zwischen all den absurden Wahlplakaten finden sich
Perlen wie „Ich, Du, zählt nicht, was zählt ist die Türkei“.
Mikrofon-verstärkte Stimmen brüllen Wahlversprechen umher, und mein Türkisch
reicht nicht aus, um den Sinn hinter all dem zu finden, aber vielleicht liegt
es auch nicht am Sprachverständnis. Ein Wort allerdings fällt mir gleich auf: -Barış- das türkische Wort für
Frieden. Es kommt aus dem Mund einer kleinen Frau mit wilden Locken, die am
HDP-Stand („Demokratische Partei der Völker“) ein Mikrofon ergriffen hat.
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