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Donnerstag, 22. Oktober 2015

POLITICS in Istanbul: Beziehungsprobleme - zu Merkel's Besuch in Istanbul

Ein herbstlicher Sonntag in Istanbul, das grau-weiß der Wolkendecke blendet in meinen Augen, der Geruch von Fisch streift meine Nase, als ich mit meiner Mitbewohnerin in Beşiktaş unter wehenden Türkeiflaggen warte, um eine Fähre zur asiatischen Seite der Stadt zu besteigen. Wenige hundert Meter von uns entfernt, wird zur gleichen Zeit im Dolmabahçe Palast unter Blitzlichtgewitter die deutsche Bundeskanzlerin empfangen, wahrscheinlich hat auch sie beim Spaziergang am Bosporus Ufer wie ich, mit zusammen gekniffenen Augen auf die mächtige Stadt geschaut. Ein deutscher Journalist, den ich im Sprachkurs kennengelernt habe, quält sich in diesen Minuten durch endlose Sicherheitskontrollen, um einen kleinen Blick auf das Schauspiel zu erhaschen. Ministerpräsident Davutoğlu hatte ein langes Gespräch mit ihr, heißt es, und ich stelle mir sein kindliches Gesicht vor, das mich jeden Tag von überdimensionalen Wahlplakaten herunter angrinst. Es soll ein Gespräch der Annäherung sein, in dem sich Deutschland an seinen, über einen jahrelangen Streit fast vergessenen Kameraden aus alten Zeiten wendet, um über bisherige Meinungsverschiedenheiten hinwegzusehen, im Namen der „Krise“, und neue Vereinbarungen zu treffen.

Der Krieg in Syrien treibt die Menschen in die Flucht, Menschen, die lieber in den salzigen Wellen des Mittelmeers ertrinken würden, als weiter in ihrer einstigen Heimat auszuharren und auf bessere Zeiten zu hoffen. Eltern sitzen in wackligen Booten mit ihren Kindern, die noch nicht einmal sprechen, geschweige denn schwimmen können, weil dies immer noch eine bessere Überlebenschance ist, als das Festland, als der frühere Boden unter ihren Füßen, der ihnen nun entrissen wurde.
Heimatlos zu werden, kann ich mir in meinen dunkelsten Träumen nicht vorstellen, da ich zu der privilegierten Minderheit der Welt gehöre, die im wirtschaftlich mächtigen, politisch stabilen Deutschland aufgewachsen ist. Wer sind wir also, diesen Menschen ihre Hoffnung auf ein besseres Leben zu versagen, ich habe nichts dafür getan, in meiner Heimat geboren zu werden, es war einfach Zufall. Merkel beweist Stärke in dieser Lage, indem sie ebendiese Meinung vertritt, und standhaft bleibt, was ihre Willkommenspolitik gegenüber den Geflüchteten angeht, auch unter Kritik aus ihren eigenen Reihen. Aber nun hat sie sich von der falschen Seite Unterstützung geholt.  

Die Türkei hat eine geographisch günstige Lage, um vermeintlichen Einfluss auf die Ströme der Migration zu nehmen, Merkel weiß das, Erdogan weiß das, es ist kein großes Geheimnis. Was irritiert ist, wie nun über Menschen in Todesangst verhandelt wird, Leistungen und Gegenleistungen abgewogen werden. Natürlich müssen auf politischer Ebene Weichen gestellt werden, um die große Zahl an Menschen angemessen zu versorgen. Aber welcher kühne Geistesblitz Merkel dazu gebracht hat, ausgerechnet jetzt die symbolische und faktische Freundschaft mit der Türkei in eine ernsthafte, feste Beziehung zu verwandeln, ist mir ein Rätsel. Erdogan spielt sich als großmütiger Retter in Merkels Krise auf, und sie lässt es zu wie eine naive Prinzessin. Wie in einer modernen Liebesgeschichte vergisst sie, wer sie ist, und wofür sie steht. Die EU als Wertegemeinschaft, als Verfechter der Menschenrechte, und meine Güte, Friedensnobelpreisträger reicht ausgerechnet dem Mann die Hand, der nicht nur im Wahlkampf als skrupelloser Dirigent die ihn kritisierenden Menschen durch Hintertüren verschwinden lässt, der unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terror seinen ganz eigenen Krieg führt, immer mehr auch gegen seine eigenen Bürger. Der neue Liebhaber Europas fordert Geld, Visaberechtigungen, eine Einladung zu zukünftigen EU Versammlungen und nicht zuletzt eine Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen. So hat Erdogan also wieder einen Fuß in der Tür, die zum vermeintlichen Wunderland Europa führt. Und wieder bestätigt sich, was sich wie ein roter Faden durch seine Handlungen zieht: der Eigennutz als Motto, der Machtausbau als erstes Item auf jeder seiner To-Do-Listen.
Denn würde es der türkischen Regierung um das Wohl seiner Bürger sowie um das der Flüchtlinge gehen, würden ebendiese Familien nach der Flucht in die Türkei sich nicht gegen die staatlichen Flüchtlingscamps entscheiden, um lieber ihre Kinder in den regnerischen Straßen Istanbuls Schirme verkaufen zu lassen, würde Erdogan die Bombardierung von IS Formationen nicht als Ablenkung benutzen, seinen Krieg gegen die Kurden fortzusetzen, um damit gegen diese Bevölkerungsgruppe zu hetzen, würden junge Türken nicht versuchen entweder auch für ein sicheres Leben nach Europa aufzubrechen oder gegen ihr Land in seinem derzeitigen Zustand zu protestieren.



Während Merkel nun also auf einem goldenen Stuhl neben dem Wachsfigur-ähnlichen Erdogan sitzen muss, sitze ich neben meiner Mitbewohnerin auf einer Holzbank auf der Fähre. Nach einem Frühstück in Üsküdar treffe ich mich mit einer anderen Freundin in Kadıköy, neue Hochburg der alternativen Szene. Am Hafenufer liegen Zigaretten und Muscheln, im Wasser blitzen die silbernen Schuppen von kleinen Fischschwärmen auf, die zwischen Quallen und Plastikmüll dahin schwimmen, die Fähre macht sich rauchend wieder auf den Weg auf die andere Seite und auch hier wehen türkische Flaggen im seichten Wind. Auf dem Platz vor der Fähranlegestelle ist der Wahlkampf voll entfacht, und zwischen all den absurden Wahlplakaten finden sich Perlen wie „Ich, Du, zählt nicht, was zählt ist die Türkei“. Mikrofon-verstärkte Stimmen brüllen Wahlversprechen umher, und mein Türkisch reicht nicht aus, um den Sinn hinter all dem zu finden, aber vielleicht liegt es auch nicht am Sprachverständnis. Ein Wort allerdings fällt mir gleich auf: -Barış- das türkische Wort für Frieden. Es kommt aus dem Mund einer kleinen Frau mit wilden Locken, die am HDP-Stand („Demokratische Partei der Völker“) ein Mikrofon ergriffen hat.


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