Blut
läuft die Straßenrinne entlang, gemischt mit Regen, die hügelige Dorfstraße
hinunter, vor meine Turnschuhe. Die wichtigsten religiösen Feiertage der Türkei
haben begonnen, das Opferfest, Kurban Bayramı. Die Straßen der Stadt Pergamon sind leer, die Menschen versammeln
sich in Gärten und Hinterhöfen, um Schafe oder, abhängig von Wohlhaben, größere
Tiere zu schlachten, an der Ecke werden Messer verkauft. Über der Stadt ragt
die Akropolis, die an griechische Zeiten erinnert, und ich esse Köfte in einem
Neon-beleuchteten Restaurant. Hier scheint der Lärm meiner neuen Heimat,
Istanbul, weit entfernt, ein Mann der in seinem Hauseingang ein von der Decke
hängendes Schaf häutet, mustert mich interessiert und ein Lächeln bewegt die
ledrigen Falten um seine Augen.
Einige
Tage später bin ich zurück in der Realität der Metropole, und es regnet, Wasser
läuft die Straßenrinnen hinunter, und etwas fehlt. Die Wahlparolen, die in den
letzten Tagen von den Dächern der mit Politikerfotos tapezierten Kleinbusse in
die herumeilenden Menschenmassen geschleudert wurden, sind verstummt. Verordnete
Staatstrauer, der Wahlkampf ist somit für einige Tage ausgesetzt.
Vergossenes
Blut ist der Anlass, das klebrige getrocknete Blut von menschlichen Wesen,
welches, wegen das Diesseits überschreitender Überzeugungen von bisher
unbekannten, anderen Menschenwesen, den Betonboden von Ankara benetzt.
Nicht
das erste Mal, nicht die ersten Leben von Zivilisten, die beendet wurden, in diesem
Land, das sie trotz allem Heimat nennen. Aber das erste Mal in solch einem
absurden und unbegreiflichen Szenario, welches die Menschenwürde in unheimliche
Ferne rücken lässt. Viele Menschen hatten sich am Samstag, den 10. Oktober 2015
in Ankara versammelt, um ihre Stimme zu erheben für das, woran sie glauben; an
das gewaltfreie Zusammenleben verschiedener Menschengruppen, seien ihre
Geschichten auch noch so unterschiedlich, an Gerechtigkeit auf
zwischenmenschlicher und politischer Ebene, und an die Intelligenz der Liebe
und Menschlichkeit, die mächtiger ist als jene verachtender Waffen und
unterdrückender Regimeführung.
Sie
kamen, weil sie an den Frieden glaubten, und daran, dass er der kleinste
gemeinsame Nenner für Türken und Kurden sein kann. Sie kamen, um sich
zusammenzuschließen im Kampf gegen die verzerrte Politik, die hier geführt
wird. Eine Politik, in der ein Rütteln am Thron des kleinen Recep jeden Tag
fatale Folgen nach sich zieht. In der erstmals eine liberal auftretende, der
kurdischen und anderen Minderheiten verbundene Partei eine politische Stimme
erlangt hat, nur um in den folgenden Wochen und Monaten als unglaubwürdig
dargestellt zu werden, mit Terroristen in einem Atemzug genannt zu werden,
attackiert und boykottiert zu werden, vom machthabenden Pokerer und seinen
Gefolgsleuten höchstpersönlich. Das Volk wird gegeneinander aufgehetzt und die
Regierung versucht, mithilfe der von ihnen kontrollierten Medien, die Grenzen
zu verwischen zwischen der als terroristisch klassifizierten Gruppe PKK, die
ebenfalls der kurdischen Ethnie angehört und der demokratisch gewählten Partei
HDP, die sich für einen Platz kurdischer Menschen in der türkischen
Gesellschaft und ein friedliches Zusammenleben einsetzen. Die wahren
Terroristen sind die Anhänger der gefürchteten Gruppe „Islamischer Staat“, die
ihrerseits keine Unterscheidung vornehmen bei Angriffen auf die heterogene
Gruppe kurdisch-stämmiger Menschen die in der Osttürkei, Nordirak, Nordsyrien
und anderen Ländern leben. Viele vermuten sie hinter dem Bombenanschlag vom
Samstag, ob es je zu einer Aufklärung kommen wird, ist fraglich.
Der tägliche Bullshit |
Die
Ironie der Situation ist schmerzlich, Friedensfahnen, die tote Körper von fast hundert
Menschen verhüllen und schmutzig rot gefärbt die Schande zu bedecken versuchen.
Die Bomben haben ihre Körper zerfetzt. Ihre menschliche Hülle wurde
desintegriert, so wie Erdoğan
seit Monaten versucht, sie von der türkischen Gesellschaft zu desintegrieren. In
folgenden Stellungnahmen der Regierung wird angemerkt, es wäre möglich, die HDP
habe das Attentat selbst inszeniert, um Sympathie für die Wahl zu sammeln.
Am
1. November 2015 soll die Wahl stattfinden, das türkische Volk soll
entscheiden, welche Parteien sich an der Regierung beteiligen sollen.
HDP-Anhängern wurde am Samstag eine eindeutige Nachricht überbracht: seid ihr
gegen die Regierung, so seid euch eures Lebens nicht sicher. Die gleiche
Nachricht erfuhren vor einigen Wochen regierungskritische Tageszeitungen, deren
Hauptquartiere in nächtlichen Aktionen angegriffen wurden, unter der agitierten
Menge auch ein Abgeordneter der Regierungspartei. Trotz all diesen Umständen, und toter HDP
Wahlkandidaten, wird am Wahldatum festgehalten, unter dem Deckmantel der
Demokratie soll sich die Zukunft des Landes entscheiden.
Während meine türkischen Freunde verstört, entsetzt,
wütend, ohnmächtig durch ihren Alltag trotten, in Gedanken bei ihren Bekannten
und Freundesfreunden, die gestorben sind, erhalte ich Emails meiner deutschen
Universität, ich möge doch bitte vorsichtig sein und in nächster Zeit nicht die
U-bahn benutzen.
Am Sonntag
wird die mächtigste Frau der Welt dem kleinen Recep einen Besuch abstatten. Wird
sie ihn darauf hinweisen, dass er sich wie ein gekränktes Kind verhält, das
andere Kinder verprügeln lässt, um die Kontrolle über seinen Spielplatz Türkei
zu behalten? Wird sie ärgerlich anmahnen, dass die Tyrannerei der ISIS-Gang
überlebende Familien in ihre überforderte europäische Nachbarschaft treibt und
er dies nicht für sein Spielchen ausnützen sollte? Und wird sie mit
Sorgenfalten auf ihrer Kanzlerstirn sagen, dass sein Mobbing gegen Andersdenkende
sie an frühere Zeiten ihrer eigenen Landesgeschichte erinnert? Vermutlich
nicht. Denn sein Spielplatz hat eine wichtige geographische Lage, und
vielversprechende Spielgeräte.
Klartext,
so wie Demirtaş ihn
gesprochen hat, wird nicht über ihre diplomatischen Lippen quellen. Zu
überwältigend die derzeitige Lage der Welle von Geflüchteten in Deutschland, dass
sie zunächst übersehen wird, dass der Mann, den sie zur Zusammenarbeit bittet,
diese nur zu seinem eigenen Vorteil nutzen möchte, und am Friedensprozess und
Menschlichkeit so wenig Interesse hat wie am Geheimnis ihres
Haarpflegeproduktes.
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