Heute habe ich mich wieder daran erinnert, wie ich in meinem
ersten Semester an der Uni einen Nebenjob als Komparsin hatte, um etwas Geld
dazu zu verdienen. Einmal haben wir im Filmpark Babelsberg einen Werbespot für
Dacia gedreht, in dem wir eine Demonstration nachgespielt haben, in der Reiche
für ihren Status und gegen die günstigen Preise der Automarke protestieren. So
bin ich in albernem Burberry-Hut und Trenchcoat zwischen anderen Schauspielern
und Komparsen marschiert, neben Schmuckbehangenen Rentnern die aus ihren
Golfkarren Parolen riefen. Das Filmteam hat nicht an Kosten und Mühen gespart,
um das Ganze so echt wie möglich aussehen zu lassen, und so gab es auch eine
Horde großer Männer im Polizeioutfit mit Plastik-Schlagstöcken, Nebelmaschinen
und bei den Demonstranten Champagner Flaschen als Munition. In dem Gewusel
hatte ich für eine Sekunde wirklich einen Schrecken bekommen, als von irgendwo
her ein Knall ertönte, nur um mich kurz darauf zu erinnern, dass dies ja alles
vom Regisseur geplant war. Es war ein großes Spektakel, und während ich im
Rauch so getan habe, als würde ich vor den Einsatztrupps fliehen, dachte ich
bei mir, bloß gut, dass das alles nur Show ist. In meiner kleinen behüteten
Welt war dies bisher für mich der einzige so nahe Kontakt mit vermeintlichen
Uniformierten gewesen. Dies sollte sich heute ändern.
Heute war ein ungewöhnlich sonniger Tag, an dem ich über die
Istiklal Straße geschlendert bin, wo es von Menschen und Verkäufern wimmelt, um
ein paar Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Als ich mir gerade eine dieser schönen
Minitassen anschaue, aus denen türkischer Kaffee getrunken wird, schiebt mich
der Verkäufer in den Laden und sagt, ich soll erst einmal dort bleiben. Erst
jetzt merke ich, dass es auf der kleinen Seitenstraße wuseliger geworden ist,
Menschen rennen in verschiedene Richtungen, und ein paar Meter entfernt auf der
Istiklal sind Rufe zu hören und Polizisten reihen sich auf. Ich rufe meinen
Freund Emre an, er weiß immer Bescheid, was gerade los ist, wenn es um
politische Proteste geht. Er sagt, es gibt eine Demo gegen das militärische
Eingreifen gegen Kurden im Südosten der Türkei, und dass ich bitte vorsichtig
sein soll.
Das bin ich, aber die Seitenstraßen sind zu einem Labyrinth
voll umher eilender Menschen geworden, ich sehe, wie sich Familien im Gedränge
vom Geschehen weg zu bewegen versuchen, ein kleines Mädchen hält sich gekonnt
ihren Schal vors Gesicht. Von der Hauptstraße weht nämlich ein seltsamer
durchsichtiger Nebel, und ich brauche eine Weile um zu realisieren, dass dies
Tränengas ist, und alle genau wissen, was los ist, sie scheinen Erfahrung zu
haben. Ich irre in den nächsten Minuten durch die Gassen, wohl nicht ganz
geistesgegenwärtig, aber kritzele mit Bleistift in mein kleines Notizbuch, um mich
später an alles zu erinnern.
Auf der Istiklal Straße geht es hektisch zu, alte Männer,
junge Paare, laufen gebeugt und hustend wie von einer plötzlichen Grippe
befallen in alle Richtungen, ein Kind weint, weil es Angst hat, ein anderes,
weil seine kleinen Augen das Tränengas, das in der Luft hängt, nicht
verkraften. Als in der Ferne ein Knall ertönt und Rauch aufsteigt, setzt sich
ein Trupp gepanzerter und bewaffneter Polizisten in Bewegung, in den Augen
einer Mutter mit Kinderwagen sehe ich das blanke Entsetzen, sie ist eben noch
zum Sonntags Shopping hier entlang spaziert, und ich helfe der Familie, in eine
Nebengasse zu eilen. Ein Polizei Helicopter kreist unerlässlich über die Szene,
Ladenbesitzer lassen ihre Rollos herunter, ein paar Frauen rennen in ein
Schuhgeschäft und schauen mit tränenden Augen zwischen den Winterstiefeln aus
dem Schaufenster, ein Mann, der laut irgendetwas ruft, wird von vier Polizisten
in einen Mannschaftswagen gezerrt, eine Gruppe von Frauen halten sich die
Zipfel ihrer Kopftücher vor das Gesicht, die Sirenen von Krankenwagen mischen
sich zwischen das Husten und die Lautsprecher, die von den Panzern tönen, eine
Touristin zieht rennend ihren Rollkoffer hinter sich her, ein Zuckerwatte
Verkäufer steht unbeeindruckt an einer Ecke, die Frau am McDonalds-Schalter
schiebt die Scheibe zu, jetzt wird es wohl erst einmal keine Bestellungen mehr
geben. Mein schöner Schal, den ich mir vor kurzem gekauft habe, dient nun als
meine provisorische Gasmaske, mit der einen Hand halte ich mir die Nase zu, mit
der anderen umklammere ich mein Telefon.
Immer wieder scheint es zwischenzeitlich, als habe sich die
Lage beruhigt, Menschen stecken den Kopf aus den Türen der Geschäfte heraus, in
denen sie sich in Schutz gebracht haben. Doch dann ertönt wieder ein
Sprechgesang einer kleinen Gruppe von Demonstranten in einer Nebenstraße, und
die nächste Gruppe Polizisten setzt sich in Bewegung, mit Gasmasken und
Schlagstöcken, gefolgt von einem Panzer, dessen Wasserwerfer auf dem Dach in
Position gebracht wird, sie verschwinden in einer Seitenstraße und man hört wie
Gasgewehre gefeuert werden.
Nach einer Weile scheint es ruhiger zu werden, und ich muss
kurz verwirrt darüber lächeln, wie routiniert und selbstverständlich alle mit
der Situation umgehen. Neben mir fährt ein Rollo hoch, dahinter steht ein Mann,
der sich gerade einen Kumpir gekauft hat und froh scheint, dass er ihn nun doch
nicht verbarrikadiert, sondern im Freien mampfen kann, ein Imbiss Besitzer, an
dem ich vorbeilaufe sagt ganz automatisch seinen Standardsatz „Bitteschön, was
möchten Sie?“, ein Mann nimmt die Schwimmbrille ab, mit der er sich vor dem Gas
geschützt hatte, und ein Zivilpolizist, mit einer Gasmaske in seiner Hand
baumelnd, kauft erst einmal einen Simit, ein anderer lehnt lässig an einer
Graffiti-Wand und raucht, während er telefoniert.
Von meiner Schreckstarre erwacht mache ich mich durch
Nebenstraßen auf den Weg, um mich von der Situation zu entfernen, als mich
plötzlich ein riesiger Schwall von Tränengas überwältigt, der in einer
unscheinbaren Gasse in der Luft hängt, und meine Nase scheint entflammt zu
sein, meine Augen tränen und mein Hals kratzt, und ich stolpere in ein
Keramik-Geschäft, wo ich mit Taschentüchern versorgt werde. Eine Kundin scheint
genervt und fragt sich laut, wann sie denn endlich den Laden verlassen könne.
Nach einer Weile versuche ich, mich auf den Heimweg zu machen und komme durch
eine kleine Straße mit Lokalen und Restaurants, hier scheint niemand etwas
mitbekommen zu haben, alle sitzen gemütlich beim Essen und plaudern, mit
Selfie-Sticks werden Erinnerungsfotos geschossen. Wie viel Zeit vergangen ist,
kann ich nicht genau sagen, aber es scheint, als habe sich die Unruhe gelegt, und
ich laufe dem Ende der Istiklal entgegen, wo Emre in seinem Büro auf mich
wartet.
In meinem Kopf ist überraschende Leere, und ich notiere ein
paar Beobachtungen weil ich weiß, dass mein Gehirn gerade nicht so hervorragend
zu funktionieren scheint. Ich spüre, dass etwas nicht stimmt, bevor ich
lokalisieren kann, was die Quelle dieser Ahnung ist, aber dann sehe ich, dass
sich vor einem Starbucks eine laute Diskussion abspielt. Keine Polizisten zu
sehen, nur eine Frau, die vom Alter gekrümmt mit herumstehenden Männern
diskutiert, die alle eine ähnliche Mütze tragen. Sie redet mit leiser Stimme,
die Männer schreien ihr ins Gesicht, die türkischen Worte ergeben keinen Sinn
in meinem Kopf, aber die anderen Leute, die um die Szene herum stehen,
entgegnen in tiefer Stimme, was wie Buh-rufe klingt. Eine jüngere Frau, vielleicht
ihre Tochter, nimmt die Frau am Arm und versucht sie wegzuziehen. Ein paar
Meter entfernt dreht sich eine andere Frau um, ungefähr so alt wie ich,
vielleicht eine Studentin, und ruft laut etwas zu der Männergruppe. Dann geht
alles ganz schnell, simultan scheinen alle die Fassung zu verlieren, einer der
Männer schreit „Buraya gel!“, was heißt ‚Komm her!’ und sprintet in Richtung
der jungen Frau, gefolgt von den anderen zehn Männern, die eben noch die alte
Frau angeschrien hatten. Mein Bauch, mein Inneres zieht sich zusammen, mein
Körper läuft rückwärts und stößt gegen eine Fassade, die Frau flieht, vor den
Männern in den seltsamen Mützen, plötzlich tauchen aus einer Seitenstraße aber
doch Polizisten auf, zücken ihre Schlagstöcke und rennen der Frau hinterher.
Was sie geschrien hat, habe ich nicht verstanden, und habe sie danach aus den
Augen verloren, und möchte eigentlich auch nicht wissen, wie die Situation für
sie geendet ist. (Später wird mir Emre erzählen, die Mützen-Männer waren
Zivilisten. Aber weil sie die gleiche Ideologie wie der Staat haben, geht die
Polizei nicht gegen sie vor, wenn sie wie hier auf andere Menschen losgehen.) Nachdem
die aus dem Nichts aufgetauchte Polizeimannschaft fast sachte mit einem leisen
„Plopp, plopp-plopp“ weitere Gaspatronen in Richtung uns herumstehender
Menschen kullern lässt, jogge ich zum Ende der Straße und in Emres Büro.
Im Büro angekommen schlürfe ich heißen Kaffee und merke erst
jetzt, wie eisig meine Hände sind. Dieses Gefühl, als sich mein Inneres
zusammen gezogen hat, versuche ich Emre zu erzählen, es ist schwer zu
beschreiben. Ich kenne das nur aus Situationen, wenn ich früher als Kind Filme
gesehen habe, in denen Polizisten mit Schlagstöcken auf Menschen losgehen, oder
später wenn ich solche Szenen in den Nachrichten gesehen habe. Diese Situation,
in der bewaffnete Menschen in Überzahl und Schutzkleidung über eine hilflose
Person auf dem Boden gebeugt ist, hat für mich etwas elementar unmenschliches.
Heute war es nicht nur eine Szene auf einem Bildschirm, sondern direkt vor
meinen Augen hat sich eine solche Situation angebahnt, das hat mich sichtlich
überfordert. Nach einer Weile Schweigen reden wir über die Gezi-Proteste, wie
Emre sich damals mit seinen Freunden auch mit Taucherbrillen bewaffnet hat, wie
sie als Demonstranten in der Überzahl waren, zu tausendst haben sie einfach
dort gestanden, mitten auf dem Taksim Platz, um ein Zeichen zu setzen, für ihre
Rechte, dem Tränengas zum Trotz. Er zeigt mir Fotos aus der Zeit, aber nur
einige, denn dann werden seine Augen glasig und wir wechseln das Thema.
Ein kluges Fazit habe ich nicht parat. Ich kann nur sagen
und bezeugen: das passiert hier, fast jede Woche, nicht nur an den routinierten
Reaktionen der Menschen, die ich heute beobachtet habe, abzulesen. In Situationen,
in denen Regime-Kritik mal wieder so laut wird wie heute, herrscht Willkür, es
ist egal, ob die Demonstration friedlich ist, ob theoretisch gesehen
Meinungsfreiheit herrscht, ob Kinder Tränengas abbekommen, wenn sie zur
falschen Zeit am falschen Ort sind, es ist egal. Rechte werden beschnitten, und
Protest niedergeschmettert, und ein neuer Zorn gegen diese Ungerechtigkeit
scheint wieder erwacht. Manchmal, wenn ich sehr wütend bin, muss ich anfangen,
zu weinen. Ich kann es nicht lassen, und das macht mich noch wütender. Die
Demonstranten heute waren außerordentlich zornig, und sie haben alle geweint.
Weil sie Ihre Augen geöffnet haben, weil sie sehen, was passiert in ihrem Land,
sie schauen hin, und in ihre wütenden Augen kriecht Tränengas, und das macht
sie noch wütender.
https://www.rt.com/news/326591-istanbul-police-tear-gas/
http://en.cihan.com.tr/en/police-intervene-in-protestors-in-istanbuls-taksim-vCHMTk2OTQ4Nw==.htm
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